Allan Pettersson / Hrsg. von Ulrich Tadday – München: edition text+kritik, 2013. – 114 S.: s/w Abb.; Notenbsp. (Musik-Konzepte ; NF 162)
ISBN 978-3-86916-275-1 : € 24,00 (Pb.)
„Petterssons Musik läßt sich, vereinfacht, charakterisieren als unmittelbares klangliches Protokollieren von Erregungs-, Schmerz-, Krankheits- und Beruhigungszuständen“ (Hans-Klaus Jungheinrich 1995). Lange Jahre ist die Rezeption von Allan Petterssons (1911-1980) sinfonischem Werk, dem wohl bedeutendsten schwedischen Beitrag zur Musik des 20. Jahrhunderts, allzu bereitwillig dem selbstinszenierten Bild des einsam leidenden Komponisten gefolgt. Seinem umstrittenen Œuvre warfen die einen vor, angesichts der avantgardistischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts unbeirrt am spätromantischen Klangideal festgehalten zu haben, anderen galt er als größter Ausdrucksmusiker seiner Zeit. Dem vorliegenden Band in der renommierten Reihe Musik-Konzepte gelingt es vorzüglich, an exemplarischen Ausschnitten die allzu enge Konnotationsbildung Werk – Biographie – Leiden zu überwinden, Ansätze zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Werk, Schriften und Persönlichkeit anschaulich aufzuzeigen und stets Hinweise auf Spezialstudien zu geben.
Michael Kube knüpft in seinem Beitrag an die kritischen Bemerkungen von Claes M. Cnattingius an, der bereits 1970 vor dem Fehler warnte, die autobiographischen Züge in Pettersons Musik einseitig hervorzuheben. Kube macht deutlich, dass Allan Pettersson zwar tatsächlich aus schwierigen familiären Verhältnissen in einem einst verarmten Arbeiterviertel Stockholms stammt, worauf Pettersson in seiner Selbstwahrnehmung auch sein Leiden an einer schweren chronischen Arthritis zurückführt. Andererseits gelang es dem jungen Pettersson aber, sich zu einem versierten Violaspieler ausbilden zu lassen, der 1938 das renommierte Jenny-Lind-Stipendium gewann und ein Jahr später einen Anstellung im nachmaligen Stockholmer Philharmonischen Orchester erlangte. Ab Mitte der 1940er Jahre nahm er Stunden in Harmonielehre und Kontrapunkt. In dieser Zeit entstanden eigene Gedichte und die 24 Barfußlieder. Kube macht deutlich, wie Petersson zeitlebens zwei Themenfelder akzentuierte, welche die Rezeption bestimmten: der nähere und fernere biographische Kontext und das Konzept einer ‚Musik mit eigenem Leben“.
Den Pariser Studienjahren (1951/52) widmen sich zwei Beiträge. Alexander Keuk verfolgt Petterssons Entwicklung zum Sinfoniker über das Konzert für Violine und Streichquartett (1949) und die Sieben Sonaten für 2 Violinen. Keuk macht deutlich, dass es Petersson während dieses Aufenthaltes in Paris darum ging, Klarheit über seinen weiteren Weg zu gewinnen: ob kammermusikalisch oder sinfonisch orientiert. Entscheidend war dabei das Credo „Ich kann nicht so wie andere“, das ihn dann auch in Distanz zur damals in Paris versammelten Avantgarde (Stockhausen, Boulez und andere) treten ließ. Am Beispiel des Violinkonzerts und der von energetischer Inspiration durchdrungenen Sinfonien 2 bis 4 (die erste ist wie die 17. ein Fragment geblieben) erläutert er exemplarisch Peterssons musikalische Grammatik dieser Zeit — seine Kunst sollte keinesfalls auf die bekannten Werke der mittleren Periode eingegrenzt werden. Martin Gelland untersucht den philosophischen Kontext der 1951 in Paris entstandenen Bekenntnisschrift Die Dissonanz- der Schmerz – ein Unschuldiger und weist insbesondere die Nähe zu Jean Paul Sartres Der Künstler und sein Gewissen nach. Für Pettersson gräbt sich das Erleben des Leidens in die Dissonanz ein, ganz im Sinne von Sartres Konzept des ‚immanenten Sinnes‘ wird der Schmerz immanenter Teil der Dissonanz.
Jens Malte Fischer beschreibt den langen Entwicklungsweg zur gewaltigen 6. Sinfonie, die mit den vielzitierten Passagen von 1968 verbunden ist: „Das Werk, an dem ich arbeite, ist mein eigenes Leben, das gesegnete, das verfluchte […]“. Fischer zeigt, welche Rolle in dem 60-minütigen einsätzigen Werk das mehrfache Zitieren des letzten der Barfußlieder im letzten Drittel spielt und lotet Ähnlichkeiten dieser hochgradig menschlich beredten Musiksprache zu Mahlers Adagio der 9. Sinfonie und zum Choralteil von Alban Bergs Violinkonzert aus.
Anschließend macht Martin Knust interessante Beobachtungen zur der unterschiedlichen Rezeption von Petterssons Musik in Schweden und Deutschland. In Schweden galt die Uraufführung der 7. Sinfonie 1968 als Meilenstein der schwedischen Musikgeschichte, mit Pettersons Tod 1980 ging das öffentliche Interesse an seiner Musik deutlich zurück, was bis heute anhält. In Deutschland setzte die Pettersson-Rezeption mit dem DDR-Gastspiel der Stockholmer Philharmoniker 1969 ein. Von der DDR-Musikwissenschaft wurde Petterssons Musik dann stark ideologisch als Protest gegen die westliche ‚Integrationsgesellschaft‘ gelesen. In Westdeutschland wurde Pettersson erst mit der Aufführung der 10. Sinfonie 1982 in München ‚entdeckt‘. Seitdem setzten sich Komponisten und Dirigenten für ihn ein. In Deutschland entstanden die am meisten Pettersson-Einspielungen, Komponisten wie Wolfgang Rihm, Manfred Trojahn und Peter Ruzicka sahen sich durch ihn in ihren künstlerischen Intentionen bestätigt. In Schweden ist eine derartige kompositorische Rezeption nicht festzustellen. 1994/95 wurde ihm ein aus 63 Konzerten bestehendes Musikfestival in NRW gewidmet. Doch hat dies bis heute einmalig geblieben.
Den letzten Beitrag bildet ein hier erstmals in deutscher Sprache veröffentlichtes Radiointerview Petterssons mit Sigvard Hammar von 1972. Entgegen der Sicht von Kommentatoren, die in seiner Musik zahlreiche Mahler-Anspielungen gefunden haben, bekennt (oder doch: vernebelt?) Pettersson in diesem Gespräch: „Also, ich glaube, ich kenne keinen so schlecht wie Mahler. Ich habe mir kaum einmal seine Partituren angesehen. Ich glaube, ich habe eine Partitur von ihm und habe nicht einmal hineingeschaut.“ Die Lektüre dieses Interviews gibt jedenfalls zahlreiche auch unerwartete Einblicke in das vorurteilslose Denken dieses großen Komponisten, der Musik nicht als Komponist, sondern als Mensch hören will, und den der Ausdruck einer jeden beliebigen Musik überwältigen kann: „Das kann mir mit einem großen Sinfoniker wie Beethoven passieren oder mit Alban Berg, das kann ein kleines einfaches Liedchen sein, sogar ein Popsong. Da kann es vorkommen, dass etwas zündet. Also beim Hörer. Ich bin ja auch nur ein Mensch.“
Hartmut Möller
Stralsund, 17.07.2014