Richard Strauss-Handbuch / Hrsg. von Walter Werbeck. – Stuttgart u. Weimar: Metzler u. Bärenreiter, 2014. – XXXIII, 583 S.: Abb., Notenbsp.
ISBN 978-3-476-02344-5 (Metzler) u. 978-3-7618-2058-2 (Bärenreiter) : € 79,95 (geb.)
Jubilare, deren schöpferische Produktion, und sei es nur partiell, die Zeiten überdauert, verdienen an erster Stelle eines: die Würdigung im Licht der ungeschönten Wahrheit und der differenzierenden Exegese. Metzler und Bärenreiter haben mit ihrer Serie der Komponisten-Handbücher hierin Hochwertiges geleistet, indem sie ein an sich bereits umfassendes Nachschlagewerk durch spezifische, aus dem individuellen Profil abgeleitete Aspekte zu einem beziehungsreichen Panorama des aktuellen Forschungsstands erweiterten. Gerade dieses Plus einer fundamentalen Basisarbeit der Imagerevision und Zusammenschau bis dato eher verstreut publizierter Lichtblicke schlägt im besten Sinne zu Buche bei der Spielplangröße Richard Strauss (1864-1949) in dessen Jubiläumsjahr zum 150.
Dass neben Spitzenreitern weitere Schätze fürs Repertoire zu heben sind, zeigt sich auch hier. Zum anderen aber formiert sich eine Autorenelite zu einem vieldimensionalen Spiegel der innovativen Strauss-Forschung, die global betrachtet erst seit Ende des letzten Jahrhunderts den Kinderschuhen entwachsen ist. Denn dieses 20. Jahrhundert war, wie man lange verkannte, das wahre Koordinatensystem von Strauss‘ Lebenswerk, das im 19. federführend die Moderne eingeläutet hatte. Unter der Maxime eines rigorosen kompositorischen Materialfortschritts der atonalen Avantgarde zieh die akademische Wissenschaft, exemplarisch im folgenreichen Verriss Adornos, den zeitlebens der Tonalität verpflichteten Strauss des Hochverrats an jener Moderne, der er im dissonanten Idiom von Salome und Elektra Tür und Tor geöffnet habe, um sie im Rosenkavalier scheinbar in traute Bahnen kulinarischer Opernbehaglichkeit zurückzuzwingen. Vollends lähmend für einen unvoreingenommenen Umgang mit Person und Œeuvre wirkte Strauss‘ von nicht uneigennützigen Kunstinteressen geleiteter Schulterschluss mit Deutschlands braunen Machthabern im Amt des Präsidenten der Reichsmusikkammer. Doch die zeitliche Distanz zu unverrückbaren Wahrheiten nahm den Ressentiments die Spitze – ein glückliches Phänomen, das der Strauss-Forschung durch amerikanische Impulse seit den 1990-er Jahren die polarisierenden Tendenzen zwischen Idealisierung zum letzten spätromantischen Übervater und Verteufelung als reaktionärem Bremsklotz nahm. Gleichwohl kann, wie der Greifswalder Musikologe Walter Werbeck in seinem Editorial betont, „von einer wirklich etablierten, auf allen Feldern von der Biographik bis zur Philologie, von der kritischen Analyse bis zur (kultur-)wissenschaftlichen Interpretation gespannten Strauss-Forschung noch kaum die Rede sein.“ (S. IX)
Schon der formale Rahmen mit akkuratem Werkverzeichnis und vorangestellter Zeittafel exponiert die Multifunktionalität des momentan nur noch als Komponist präsenten Strauss. Pro Jahr listet die Vita neben Biographischem und Werken kalendarisch dicht seine Konzerte und Dirigate auf. Auch Werbecks Einführung gründet sich nicht ex cathedra auf überkommene Klischeebilder, sondern stellt hypothetisch „Strauss-Bilder“ in diversen Facetten zur Diskussion: den „konservativen Modernisten“, der sich, geprägt durch das Münchner Umfeld des Vaters, nach antiwagnerschem Einstieg umso mehr dann durch den Einfluss Alexander Ritters dem neudeutschen Geist verschrieb, dessen ästhetische Ideale entmystifizierend abwandelte, letztlich dennoch Wagnerianer blieb, „weil er bis zuletzt an Wagners historisch-ästhetischer Konzeption festhielt, derzufolge die Musikgeschichte im Musiktheater kulminieren müsse und die Komposition von Instrumentalmusik seit Beethoven ihre Berechtigung verloren habe.“ (S. 4) Weitere „Bilder“ skizzieren den fürsorglichen Garmischer Familienmenschen und Großbürger, ferner Freunde und gesellschaftliches Leben, nicht zuletzt den Musiker, Geschäftsmann und Funktionär sowie den – an NS-Widrigkeiten scheiternden – Politiker. In nuce liegt hier die folgende Marschrichtung:
Zunächst porträtieren sechs Beiträge den ausübenden Musikfunktionär als Dirigenten, Standesvertreter und Geschäftsmann: den Kapellmeister in Meiningen, München und Weimar sowie langjährigen Operndirektor in Berlin und Wien (Roswitha Schlötterer-Traimer †), den oft unbequemen Verhandlungspartner in Verlagsbeziehungen (Dominik Rahmer), dazwischen – ebenso instruktiv in Aufarbeitung von Quellen- und Forschungslage – den führenden, durchaus kollegial eingestellten Vorsteher in nationalen und internationalen Musikverbänden bis zum denkwürdigen Rückzug vom Präsidium der Reichsmusikkammer im Zuge des Festhaltens an seinem jüdischen Librettisten Stefan Zweig (Albrecht Riethmüller). Das Verständnis der Straussschen Ästhetik erschließt sich aus den Analysen seiner Wagner-Rezeption mit ihrer oft ironisierenden Modifikation des Transzendenten ins Irdische (Bernd Edelmann), seines speziellen Verhältnisses zu Mozart (Thomas Seedorf) und seines aus heutiger Sicht arg utopischen kulturphilosophischen Konzepts der Opernkomposition (Katharina Hottmann), das sein eigenes Schaffen, die Historie des Genres reflektierend, „als Konklusion der historischen Entwicklung“ (S. 106) geltend machte. Nicht zu kurz kommt auch der arbeitstechnische Aspekt: So setzt Jürgen May die philologisch-empirische Untersuchung des Straussschen Kompositionsprozesses in Relation zu seinem Traditionsverständnis, worauf Reinhold Schlötterer „Strauss und seine Librettisten“ fokussiert.
Mit über 175 Seiten belegen die gattungstypologisch heterogenen Bühnenwerke als Strauss‘ Paradegenre das Herzstück des Bandes. Gruppen von je zwei bis vier Opera werden mit Expertenblick nach dem Muster Entstehung, Handlung, Kommentar und Wirkung nebst – bescheidener – diskographischem Hinweis referiert. Doch innerhalb dieses hergebrachten Schemas pulsieren exegetische Kreativität, intertextueller Überblick und Sprachkompetenz par excellence. Wie Strauss im Erstling Guntram nicht zuletzt via Nietzsche Distanz zu Wagner dokumentierte, wie er dessen Erlösungsmythen durch einen sexuellen Coup in Feuersnot konterkarierte, dann mit Salome und Elektra den psychologischen Kontrapunkt radikalisierte, stellt Susanne Rode-Breymann in den Kontext von Strauss‘ historischer Reflexivität, die wiederum, wie Bryan Gilliam anhand der drei zentralen Hofmannsthal-Opern eruiert, den Rosenkavalier zu einem Moderne-Paradigma der „simultanen Asynchronitäten“ (S. 189) aufwertet. Stärker musikbezogen als Gilliam finden auch Ulrich Konrad, etwa in divergenten Werken wie Intermezzo oder Ägyptischer Helena, und Rebecca Grotjahn in den Werken auf Libretti von Zweig und Joseph Gregor die treibende Kraft im Allomatischen, d.h. im – so Konrad – Glauben „an die erlösende Kraft der Treue und des Opfers, das Wunder der Verwandlung“ (S. 226). Ein Highlight des soziokulturellen Beziehungszaubers begegnet in Dörte Schmidts Studie zur Liebe der Danae und Capriccio, dessen nobles Flair keinesfalls Eskapismus in bedrückenden Kriegstagen, sondern einen brisanten Zeitbezug voll ambivalenter Topoi offeriert.
Wie hier im Anschluss die Ballette finden unter dem Rubrum Vokalmusik auch die mehrheitlich entweder bei Strauss geringer bestückten oder im Musikleben seltener reproduzierten Klavierlieder, Orchesterlieder und Chorwerke kompetente Anwälte.
Die Abteilung Instrumentalmusik wiederum differenziert gezielt zwischen der frühen, im klassisch-romantischen Fahrwasser treibenden Klavier- und Kammermusik (Werbeck) gegenüber drei essenziellen Bereichen sui generis: voran die ästhetisch revolutionären Tondichtungen von Macbeth bis Alpensinfonie, die Charles Youmans intensivst zu Entstehung und Wirkung, betont dezidiert zur musikalischen Struktur und Relation von Musik und Programm befragt. Hier gründet auch das Spezifikum gegenüber weiteren sinfonisch-konzertanten Werken (Arnfried Edler). Inwieweit Strauss nach Abschluss des Opernschaffens Neuland im instrumentalen Spätwerk beschritt – in Reaktion auf das Kriegserlebnis, in kompositorischen Lösungen, im Stellenwert poetischer Ideen –, seziert subtil Jens-Peter Schütte. Und final Strauss‘ Wirkung zu bilanzieren, fordert den Seitenblick auf Komponistenkollegen (Jürgen Schaarwächter), frappiert nicht weniger dann im Report der musikwissenschaftlichen Positionen: Wolfgang Ratherts exzellente Diagnose trägt mit offenen Fragen die Fortschreibung in sich. Jubilar ist Strauss nicht nur 2014.
Andreas Vollberg
Köln, 24.06.2014