Sanio, Sabine: 1968 und die Avantgarde. Politisch-ästhetische Wechselwirkungen in der westlichen Welt. – Sinzig: Studio Verlag, 2008. – 135 S.: 8 s/w-Abb. (Edition pp ; 2)
ISBN 978-3-89564-128-2 : € 12,50 (Pb.)
Das Buch ist dem neu- und experimental-musikalischen Komponisten Dieter Schnebel gewidmet. Dies und die Lehrtätigkeit von Frau Prof. Dr. Sanio als Gastprofessorin für Klanganthropologie und Klangökologie deutet darauf hin, dass mit dem vorliegenden Buch eine Perspektive geboten wird, die die Sicht nicht starr auf politikwissenschaftliche Horizonte lenkt, sondern die zum Spaziergang durch die kulturelle Landschaft der Jahre um 1968 einlädt.
Die Autorin erweist sich dabei als kenntnisreiche Führerin, der es gelingt auch jene Ebenen sicher zu durchschreiten, die nicht zum Feld der zeitgenössischen Musik gehören. Daher ist das Buch nicht nur eine Sound Study von „Ho-Ho-Ho-Chi-Minh!“ über die Rolling Stones bis zum Bethanien-Lied von Cornelius Cardew, nein, es spiegelt unterschiedlichste Disziplinen kulturellen Schaffens, wie die Bildenden Künste, das Theater und die bereits erwähnte Gegenwartsmusik in einem Kontext, der durch den real praktizierten Versuch, das Politische und Private mit Hilfe ästhetisch-erzieherischer Strategien und Provokationen zu revolutionieren, geprägt war.
In Frau Sanios Studie geht es u.a. „um Rekonstruktion dessen, was da an (historischen und aktuellen) Positionen künstlerischer Avantgardebewegungen wieder am Horizont auftauchte und auf die eine oder andere Weise (re)aktiviert wurde.“ (S. 11) Hier werden Traditionslinien aufgezeigt, die bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts reichen. Hauptsächlich verweist das Buch „auf einige Impulse, die aus den Künsten direkt oder mittelbar auf die Studentenbewegung 1968 einwirkten“ (S. 12). Abschließend findet sich unter der Überschrift „Fantasia contrappuntistica“ ein Gespräch mit dem Wiener Literatur- und Kulturwissenschaftler Helmut Lethen, ehemals Aktivist der Studentenbewegung in West-Berlin.
Auch die Frage, welche avantgardistischen Kunstrichtungen (oder welche Formen von Neuer Musik und Theater) mit dem Dogma der Szene kompatibel waren und welche durch Ablehnung der Vorstellungen von marxistisch-leninistischer Volkskunst in Ungnade fielen, beantwortet sich schnell: Jene Protagonisten, die als DaDa´s Erben mit Happenings und Fluxus-Aktionen an die Öffentlichkeit traten, konnten bestehen. Als vorgeblich unpolitischer Minimalist oder Konzeptkünstler hatte man es schwer in dieser Zeit, denn das künstlerische Denken musste sich der Frage nach seiner gesellschaftlichen Funktion stellen und man geriet damit in einen Rechtfertigungszwang, schlimmer als einst Tiecks Franz Sternbald auf seinen Wanderungen. Die „gesellschaftliche Folgenlosigkeit“ wurde „als Kehrseite der ästhetischen Autonomie“ (S. 56) diagnostiziert. Wie es nach dem „Ende der Kunst“ dann dennoch richtig los ging, auch das liest man in diesem preiswerten, schmalen und dennoch inhaltsreichen und sehr wertvollen Buch.
Manfred Miersch
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 30 (2009), S. 366f.