Löbl, Karl: „Ich war kein Wunder“. Herbert von Karajan – Legende und Wirklichkeit – Wien: Seifert, 2014 – 168 S.: Abb.
ISBN 978-3-902924-20-9 : € 19,90 (geb.)
Den Doyen der Wiener Musikkritiker, Karl Löbl, hat die faszinierende Persönlichkeit Herbert von Karajans weit über dessen Tod hinaus und bis unmittelbar zum Ende des eigenen Lebens beschäftigt. Der vorliegende Band ist nur wenige Wochen nach Löbls Tod im Januar erschienen. Es ist die dritte und letzte Beschäftigung Löbls mit Karajan, die ihren Niederschlag in einem Buch findet. Mitte der 60er-Jahre, als Karajan im Streit die Wiener Oper verließ, erschien das Buch Das Wunder Karajan. Reichlich zehn Jahre später ergänzte und aktualisierte Löbl es für eine Taschenbuch-Ausgabe. Im letzten Jahr, fast 25 Jahre nach Karajans Tod, zog der Autor eine endgültige Bilanz seiner intensiven Beschäftigung mit Leben und Wirken des Stardirigenten. Retrospektiv und altersmilde zieht Löbl eine Bilanz dieses Künstlerlebens und Charakters, der Zeit seines Lebens Kollegen, Konkurrenten und Publikum zu polarisieren verstand. Naturgemäß gibt es keine elementar neuen Erkenntnisse in dem Buch, vieles ist aus den vorhergehenden Publikationen übernommen, aber mit dem zeitlichen Abstand und in Anbetracht der veränderten kulturellen Rahmenbedingungen kann Löbl eine abschließende Einordnung und Würdigung vornehmen.
Es wird dem Leser bewusst, wie viele Entwicklungen und Veränderungen im Bereich der musikalischen Hochkultur Karajan vorweg nahm oder zumindest vorausgesehen hat. Heute huldigen alle internationalen Opernhäuser dem Stagione-Betrieb, tauschen, bzw. ko-produzieren komplette Aufführungen, vermarkten diese in Ton-, teilweise auch Film-Mitschnitten. Mit den Salzburger Osterfestspielen erfand Karajan zwar keineswegs die Festspiel-Idee neu, kreierte aber sehr wohl den Typus des auf eine Person und einen Klangkörper zugeschnittenen, hoch kommerzialisierten „Events“. Seine Idee von der Kooperation europäischer Opernhäuser ist längst Realität geworden, seine Nachwuchsförderung hat reiche Früchte getragen, nicht wenige seiner Schüler und Assistenten haben selbst große Karrieren gemacht, wie z.B. der Japaner Seiji Ozawa.
Löbl kann sich auf zahlreiche Begegnungen und mit Karajan geführte Interviews, aber auch vertrauliche Gespräche berufen. Bei aller Eitelkeit war Karajan durchaus scheu und ängstlich bemüht, sein Privatleben, das in Teilen nicht unkompliziert war, von der Öffentlichkeit abzuschirmen. Löbls für einen Journalisten eher ungewöhnliche Diskretion und Loyalität haben offenbar ein Vertrauensverhältnis zwischen den Beiden geschaffen, das Karajan offenherziger und ehrlicher erscheinen lässt als in anderen Äußerungen gegenüber der Presse. Ausführlich wird die späte Krise im Verhältnis zu „seinem“ Orchester, den Berliner Philharmonikern, behandelt, die Zeit der beginnenden körperlichen Gebrechen, die dem Körper immer schwerer abgetrotzten Auftritte. Bis zur Schilderung von Karajans Tod und Beisetzung reicht die Schilderung dieses Künstlerlebens. Trotz der Fülle von Einblicken in Karajans Leben behält man das Gefühl, der Autor habe noch mehr gewusst, aber dem Porträtierten über den Tod hinaus Diskretion und Loyalität erwiesen. Eine Reihe von weitgehend unbekannten Bild-Dokumenten ergänzen den intimen Charakter dieses sehr persönlichen Erinnerungsbuches. Ein nicht unwesentlicher Beitrag zur Literatur über Karajan.
Peter Sommeregger
Berlin, 03.05.2014