Nemtsov, Jascha: Doppelt vertrieben. Deutsch-jüdische Komponisten aus dem östlichen Europa in Palästina/Israel – Wiesbaden: Harrasowitz, 2013. – 336 S.: Abb, Notenbsp. (Jüdische Musik ; 11)
ISBN 978-3-447-06975-5 : € 48,00 (kt.)
Aus den Beständen dreier jüdischer Musikarchive in Jerusalem, Tel-Aviv und New York sowie mit weiteren Hinweisen auf heutzutage mögliche Recherchen in osteuropäischen Archiven, hat Nemtsov hier erstaunliche Informationen und Dokumente gesammelt, aufgeschrieben und veröffentlicht über vier bedeutende jüdische Musiker, die weitgehend im deutschsprachigen und von der deutschen Kultur geprägten Milieus Osteuropas aufwuchsen und dann über weitere Stationen Mitteleuropas auf der Flucht vor der nationalsozialistischen Verfolgung in Palästina strandeten. Verschiedene Mechanismen führten dazu, dass diese Akteure für eine erneuerte jüdische Musikkultur in Europa und Palästina dem Vergessen anheimfielen, Nemtsov kann sie erklären und zugleich durchbrechen. Nach der als „Reinigung“ bezeichneten Eliminierung aller jüdischen Musiker aus dem deutschen Kulturleben durch die Nationalsozialisten und der zwangsweisen Reduktion ihrer künstlerischen Betätigung auf genuin jüdische Musik von Juden für Juden in Synagogen und separierten Kulturhäusern folgte ja noch die von vornherein geplante Vernichtung auch dieser kulturellen Enklaven, die den Juden in Deutschland zunächst als Übergang noch zugewiesen und auch von ihnen gesucht und aktiv gestaltet wurden. Nachdem aber (was das eigentliche Ziel des Nazi-Regimes von Anfang an war) die Synagogen niedergebrannt, ausgeplündert, zerstört oder verschlossen waren und die geduldeten (von den Nazis zynisch „geförderten“) jüdischen Kulturbünde ihre Arbeit einstellen mussten, begann für jüdische Musiker eine verschärfte Stufe ihrer Verfolgung und Vernichtung. Ihrer Wirkungsstätten, ihrer Arbeitsmaterialien und Instrumente beraubt, begann ihr Weg in die KZs und Vernichtungslager oder in die Flucht ins nicht vom Krieg erfasste Ausland. Was zunächst nur die relativ kleine jüdische Minderheit im Deutschen Reich betraf, wurde während des Krieges in den annektierten und besetzten Gebieten vor allem Osteuropas millionenfach wiederholt.
Auch nach 1945 wurde der Anteil jüdischer Künstler am deutschen Musikleben innerhalb und außerhalb der Reichsgrenzen von deutscher Seite gerne verschwiegen. Anstatt diesen Anteil nüchtern und positiv namhaft zu machen, wurde das erfolgreiche nationalsozialistische Vergessenmachen jüdischer Musiker verlängert unter dem Vorwand, das Jüdischsein jener Künstler nicht so betonen zu wollen, wie die Nazis es taten. Anstatt dem missbräuchlichen Schimpfwortcharakter des Wortes „jüdisch“ entgegenzutreten und es als neutrale und objektive Benennung einer kulturellen Herkunft zu rehabilitieren, entwickelte man eine falsche und symptomatische Scheu, das Jüdischsein eines Musikers zu benennen. Wenn man überhaupt noch Namen kannte und nannte, dann wurde ihre jüdische Herkunft höchstens indirekt zur Sprache gebracht durch einen verschämten Hinweis auf ihre Verfolgung durch die Nationalsozialisten.
Völlig ausgelöscht wurde besonders die Erinnerung an jene jüdischen Musiker und eine historische Dokumentation und Darstellung vom Wirken derer, die sich nicht nur zwangsweise, sondern offensiv und freiwillig einer Wiederbelebung jüdischer Traditionen unter religiösen oder nationalkulturellen Aspekten gewidmet hatten, auch um den allzeit und allerorten spürbaren Anfeindungen entgegenzutreten. Man tat so, als könnte ein bedeutender Musiker jüdischer Herkunft nur sein, wer seine jüdischen Wurzeln verleugnet und sich unter Selbstaufgabe seiner kulturellen Identität der deutschen oder europäischen Mehrheitskultur angeschlossen, sich an sie assimiliert und ihr gedient hatte. Synagogenmusik und chassidische Folklore galten fast als eine von den Nazis entweder nicht oder zu Recht verfolgte minderwertige Sonderkultur, der man sich unter dem Gesichtspunkt verfolgter Musik nicht zu widmen bräuchte. Um jene Musiker machten in den letzten Jahrzehnten selbst gutwillige und gutgemeinte Darstellungen (die zwar anti-antisemitisch eingestellt, aber nicht wirklich dem Jüdischen als Teil der deutschen Kultur zugewandt waren) einen großen Bogen.
Mit dieser Haltung in einer „antifaschistischen“ deutschen Musikgeschichtsschreibung rechnet Nemtsov in seinem einleitenden Kapitel gründlich ab. Er durchbricht diesen Mechanismus von jüdischer Seite und gibt gleich vier Gegenbeispiele von zu ihrer Zeit erfolgreichen und bedeutenden jüdischen Musikern, die sich „nur“ (entweder ausschließlich oder teilweise) dem historischen Studium und der Aufführung sowie der Neuschöpfung jüdischer Musik gewidmet haben und nicht etwa trotzdem, sondern genau deswegen Verfolgte des Naziregimes und Opfer eines zweiten Vergessens nach 1945 wurden. Denn natürlich war aus jüdischer Sicht das Aufführen jüdischer religiöser oder weltlicher Musikwerke in von den Nazis geduldeten Refugien oder in nicht besetzten Teilen Europas ein Akt des geistigen Widerstandes gegen das Naziregime.
Nemtsov erzählt und dokumentiert die Leben von:
‑ Israel Brandmann (1901‑1992) aus Kamenez-Podolsk in der heutigen Ukraine. Der Geiger, Chorleiter, Orchesterdirigent und Komponist wirkte von 1928 bis 1935 in Wien, dann in Palästina, die große Enttäuschung über das Land seiner Zuflucht ließ seine schöpferische Ader versiegen. Er ist einer der am gründlichsten vergessenen jüdischen Musiker dieser Generationen, obwohl er für Orchester, Klavier und Kammerensemble sowie Vokalstimmen komponierte.
‑ Marc Lavry (1903‑1967) aus Riga, Absolvent des Leipziger Konservatoriums, Dirigent russischer und deutscher Orchester in Berlin von 1928‑33, seit 1934 in Palästina, Dirigent des Palestine Orchestra, komponierte Orchesterwerke, die hebräische Oper „Dan Ho-Schomer“ und ein öfter gespieltes Klavierkonzert in so genanntem „mediterranen Stil“.
‑ Joachim Stutschewsky (1891‑1982) aus Romny, Ostukraine, Sohn eines Klezmer-Musikers, als Violoncellist Absolvent des Leipziger Konservatoriums, 1914-21 als Cellist in Zürich, ab 1921 in Wien, hier Violoncellist im Kreis um Arnold Schönberg, im Wiener Klaviertrio (mit Eduard Steuermann) und im Wiener Streichquartett (mit Rudolf Kolisch), Uraufführung von Alban Bergs Lyrischer Suite, zusätzlich Konzerte jüdischer Musik in Wien und Zürich mit eigenen Kompositionen, 1938 Flucht nach Palästina, wo er ein umfangreiches Repertoire neuer jüdischer Musik schuf, das aber im Gegensatz zur offiziellen Kulturpolitik stand, weil er sich einer Orientalisierung der Musik in Israel widersetzte. Der Lebensbeschreibung ist ein Text Stutchewskys zum 100. Geburtstag Schönbergs beigefügt. Außerdem edierte Nemtsov in einem weiteren Band dieser Reihe Schriften Stutchewskys.
‑ Chemjo Winawer (1895‑1973) aus Warschau, ging 1920 direkt aus dem Milieu polnischer Chassiden nach Berlin, Studium der Chorleitung an der Musikhochschule, 1926 Konzert des Staats- und Domchores mit jüdischer Sakralmusik unter seiner Leitung. Wechselnde Engagements als Chorleiter in Berliner Synagogen, 1933 Sammlung entlassener jüdischer Chorsänger unter Winawers Leitung, Chorreisen ins Ausland, Konzerte im Jüdischen Kulturbund und in Synagogen (Opern und Oratorien von Jacob Weinberg). 1938 Heirat mit der Dichterin Mascha Kaléko und gemeinsame Flucht mit dem 1936 geborenen Sohn Steven nach New York. Chorleiter in New York, integrale Neukomposition der Freitagabend-Liturgie. Diskussion mit Schönberg über eine Anthologie jüdischer Musik, deren Herausgabe 1955. 1960 Übersiedlung nach Israel, Sammel- und Dirigiertätigkeit. Dem Lebensabriss sind zwei Texte Winawers, über das Mazzebacken bei den Chassidim und über die musikalische Gestaltung des synagogalen Priestersegens, beigefügt.
Peter Sühring
Berlin, 19.05.2014