Musik und Kitsch / Hrsg. von Katrin Eggers und Nina Noeske. – Hildesheim: Olms, 2014. – 241 S.: zahlr. Farbabb.; Notenbsp. (Ligaturen – Musikwissenschaftliches Jahrbuch der hmtmh ; 7)
ISBN 978-3-487-15099-4 : € 48,00 (Pb.)
Es gab eine Zeit, in der das Böse auch in der Musik vermutet wurde. Ein Vorhalt konnte verdächtig sein, die gleichmäßige Kantilene oder der verminderte Septakkord. Das Böse war der Kitsch, das zur Banalität verkommene und des bloßen Effekts wegen eingesetzte Gefühl. Auf diese Fährte begaben sich Kitschkriminologen wie Hermann Broch, Theodor W. Adorno und Carl Dahlhaus. Zunächst hatten sie leichtes Spiel. Jeder erkannte Kitsch auf Anhieb, auch wenn die Beweislage wegen fragwürdiger Kriterien dünn war. Irgendwann ab 1950 wurde es schwieriger. Was Kitsch war, konnte nun Camp (ironische Inszenierung), Trash (Vergnügen am subversiven Aspekt) und Kult (ästhetische Umwertung genannt werden (nach Guido Heldt, S. 126).
Höchste Zeit also, den eigenen Standort in Frage zu stellen und das Thema von verschiedenen Seiten einzukreisen. Mit dem von der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover (hmthmh) herausgegebenen musikwissenschaftlichen Jahrbuch ist dieser Perspektivwechsel gelungen. In zwölf Essays arbeiten sich die Autorinnen und Autoren durch 150 Jahre Musikgeschichte und die unterschiedlichen Bezugspunkte zum Kitsch. Die Klassiker sind vorhanden: Der rheinweinselige Mysterienschwank der Loreley (M. Unseld); pathosgeschwängerte Volkstümelei im NS-Musikfilm (G. Heldt); die Sehnsucht des blassen Mitteleuropäers nach südlichen Gefilden (sowohl aus bildungsbürgerlicher Sicht bei S. Meine als auch touristisch bei M. Paszdierny). Den Kitschvorwürfen bei Komponisten gehen M. Lehner (Richard Strauss) und N. Noeske (Franz Liszt) nach. Noeskes Aufsatz ist besonders aufschlussreich, da der berühmte Liebestraum Nr. 3 aus Ort und Zeit herausgelöst und das Stück im Kontext seiner Verwendung in Ken Russells Biopic Lisztomania besprochen wird. B. Kutschke stellt den Kitschbegriff bei Adorno auf den Prüfstand und M. Tischer wirft einen kritischen Blick auf den Personenkult um Stalin. Den ironischen Umgang mit dem Thema untersuchen C. Stahrenberg (Kabarett der Zwischenkriegszeit) und D. Schmidt (1970er Schlager und die Linke). Sehr lesenswert widmet sich J. Mendívil abschließend dem Kitschbegriff in der musikethnologischen Forschung.
Das Themenspektrum legt es nahe, in Julio Mendìvils ironischen Seufzer einzustimmen: „Was ist aus dem guten alten ‚schlechten‘ Kitsch geworden?“ (S. 227). Liebgewonnene Vorurteile in Frage zu stellen, ist mühsam. Die Autoren haben diese verdienstvolle Aufgabe auf sich genommen und die Diskussion gebündelt und geöffnet. Einzelne Positionen können durchaus hinterfragt werden; das gilt sowohl für die Haltung der Autoren zum Kitsch (die von ironischer Distanz bis zur Herablassung reicht) als auch für die Beurteilung einzelner musikhistorischer Phänomene. Genau diese Positionierung ist es aber, die man von einer guten wissenschaftlichen Arbeit erwarten kann und die Anknüpfungspunkt für eigene Überlegungen ist. Und wird nicht die Welt viel bunter, wenn man einsieht, dass nicht nur Schönheit im Auge des Betrachters liegt, sondern dass auch der Kitsch – oder das, was dafür gehalten wird – gleich nebenan im Ohr sein Zuhause hat?
Michael Stapper
München, 06.05.2014