Johler, Jens: Die Stimmung der Welt. Roman – Berlin: Alexander, 2013. –349 S.
ISBN 978-3-89581-320-7 : € 22,90 (geb.)
Es ist kaum zu glauben, aber hier gibt es tatsächlich ein weitgehend gelungenes Exemplar aus der heiklen Gattung des Künstlerromans und der besonders heiklen Gattung des Musikerromans anzuzeigen, das man kaum noch für möglich gehalten hätte. Zumal hier von keiner Phantasiegestalt wie einem Jean Christoph oder Adrian Leverkühn erzählt wird, sondern von einer äußerst realen Figur wie dem idolverdächtigen Johann Sebastian Bach. Die Lücken in seiner Biographie, der spärliche Fundus von Informationen über sein Leben locken viele auf den Plan, die sich berufen fühlen, hier mit Spekulationen nachzuhelfen, dieser Autor aber ist auserwählt, besonders gut erfundene Geschichten um das spärliche Gerüst der verbürgten biographischen Daten zu ranken, um etwas wirklich Neues an dem zu Grunde geliebten und gelobten Idol sichtbar machen. Bach ist hier nicht der sattsam bekannte fleißige Leipziger Thomaskantor (seltsam, dass noch niemand auf die Idee kam, ihn wie seinen Kollegen Telemann, der ihn immerhin um mehr als zwanzig Jahre überlebte, als „Vielschreiber“ zu titulieren), sondern ist erst auf dem Weg dorthin und hat die wichtigsten Erfahrungen, die ihn prägen und sein schöpferisches Lebensziel hervorrufen, noch vor sich resp. steckt mitten in deren Bewältigung. Kaum peinliche Sentimentalitäten, keine hagiografischen Überhöhungen: hier ist Bach kein fünfter Evangelist, kein Halbgott auf der Orgelbank, sondern ein suchender, neugieriger Mensch mit seinen Widersprüchen. Der Held ist auch hier ein Held, sogar einer ohne Fehl und Tadel (wenn man ein paar lässliche Sünden wie erotische Empfindsamkeit abzieht), aber er ist sympathisch, weil menschlich-allzumenschlich, und man lernt mit ihm zusammen einiges über Musik. Vor allem darüber, wie umwälzend die heute zur nicht in Frage gestellten Selbstverständlichkeit gewordene wohltemperierte Stimmung für instrumentale und vokale Musik ursprünglich war, deren endgültige Befestigung nun wirklich eine historische Großtat des Köthener Hofkapellmeisters Bach war, mit der er der musikalischen Moderne im Guten wie im Schlechten zum Durchbruch verhalf.
Man könnte das Buch auch als einen Roman über die Entstehung jener Sammlung von Präludien und Fugen bezeichnen, die Bach unter dem Namen Das wohltemperierte Clavier publiziert hat. Und es ist auch keine Anmaßung, ausgerechnet diese Sammlung (und eben nicht die großen Oratorien) entgegen den ihr von Bach selbst verliehenen, verharmlosenden Untertitel („zum Nutzen und Gebrauch der lehrbegierigen musikalischen Jugend als auch zum besonderen Zeitvertreib der in diesem Studium schon habil Seienden“) als sein angestrebtes opus perfectum et absolutum anzusehen. Denn welche Tonarten auch immer Bach in den großen Passionsmusiken und späteren Kantaten abschreiten mag, in den Stücken für ein wohltemperiertes, d.h. in gleichschwebende Stimmung oder Schwingung versetztes Klavier hat er die Möglichkeit, über den Kreis der bisher leidlich spielbaren Tonarten hinauszugehen, verankert. Denn Bach denkt von der Orgel, von den Tasten, von der Stimmung her und ist in diesem biographischen Roman fest entschlossen, den Teufelskreis der alten Stimmungen, bei denen in der nächsten Quinttonart hinter E-Dur der Wolf zu heulen anfängt, hinter sich zu lassen. Hinter sich und hinter der gesamten Menschheit gleich mit. Um nichts Geringeres war es ihm zu tun – da ist nun wieder eine kleine Heroisierung versteckt. Aber: ob Andreas Werckmeister und andere es wirklich auch ohne ihn geschafft hätten, ist tatsächlich zweifelhaft.
Zwar erscheint hier Werckmeister als ein fanatischer Mystagoge, der einer vorgeblich himmlischen Harmonie den Teufel austreiben will, aber in einem weiteren, Bach persönlich erteilten „Musicalischen Paradoxal-Discurs“ präsentiert er einen weiteren quasi vierten gleichschwebenden Temperatur-Entwurf, der Bach zum Leitfaden wird. Die Stimmung, die man auch Werckmeister IV nennen könnte, gemahnt schon eher an eine Stimmung für zwölf gleichberechtigt aufeinander bezogene Töne (alle zwölf Quinten des Zirkels werden um je ein Zwölftel erniedrigt, um das von Pythagoras entdeckte Komma zu beseitigen).
Auch Bach ist in diesem Roman aus christlichen Motiven von der Idee besessen oder beseelt, eine Stimmung, resp. künstliche Anordnung der Intervalle zu privilegieren, die die vielleicht gottgewollte, jedenfalls naturgegebene Unordnung der Töne und Klänge beseitigen kann. Gestützt auf die bereits vorgefundene Bevorzugung von nur zweien der alten Tongeschlechter (des Dur und des Moll) will er erreichen, dass man in allen transponierten Tonarten dieser beiden Geschlechter gleichmäßig wohlklingend spielen kann. Alle an ihn von Heinichen und anderen herangetragenen Einwände (dass er damit zur Mechanisierung der Musik beiträgt, die Tonartencharakteristik zerstört, das Singen und Spielen in den alten Stimmungen und deren besonderen Charakter verdirbt) schlägt er in den Wind und lässt sich auch von davonlaufenden Hörern, denen die wohltemperierte Stimmung und Bachs ganze „Reise nach Fis-Dur“ nur unsauber vorkommt, nicht beirren. Bachs Zeitgenossen muss es beim Anhören seiner Präludien und Fugen für ein gleichschwebend gestimmtes („wohltemperiertes“) Klavier mit ihren vielen „fremden Tönen“ so gegangen sein wie uns heute, wenn wir eine Komposition von Bachs Vorgängern (sagen wir Froberger) ausnahmsweise einmal in mitteltöniger oder reiner Stimmung hören dürfen.
Jens Johler ist ein warmherziger und witziger Fabulierer. Und so werden einige Rätsel aus Bachs Leben auf eine elegante, phantastische und zugleich konstruktive Weise vorgeblich gelöst. Ist es wirklich wahr, dass er nie eine Oper geschrieben hat, obwohl er sich zu ihrer Blütezeit in Hamburg aufhielt? Konnte er ihrem Zauber wirklich widerstehen, und wenn es wahr sein sollte: warum äußerte er sich wohl abschätzig über diese Gattung? Oder gab es doch eine Circe von ihm, mit der er eine Hamburger Sängerin zu bezirzen versuchte? Und sind wir nur unfähig, die späteren Parodien dieser verschollenen Oper in einigen Arien seiner Kirchenkantaten herauszuhören? Und wer war wohl die fremde Jungfer, mit der er auf der Arnstädter Orgelempore erwischt wurde? Hierauf und auf anderes in einer Rezension näher einzugehen, grenzte schon an Verrat. Nur in Italien war er auch in diesem Roman nun wirklich nicht gewesen. Aber alle anderen Reisen und die vielen Leute, die er dabei traf (Reincken, Buxtehude und einige typischerweise vergessene Frauen), spielen hier eine große Rolle.
Peter Sühring
Berlin, 07.03.2014