Herr, Corinna: Gesang gegen die ‚Ordnung der Natur‘ – Kastraten und Falsettisten in der Musikgeschichte. – 2., rev. Aufl. – Kassel: Bärenreiter, 2013. – 556 S.: Notenbeisp.
ISBN 978-3-7618-2187-9 : € 49,95 (geb.)
Als Alfred Deller zu Beginn der 50erJahre die internationale Musikszene betrat, galt das Countersingen noch als extrem exotisches Terrain. Heute kann man sich vor Vertretern dieser Spezies schon fast nicht mehr retten. Ihre Kunststimmen machen im Verein mit der historischen Aufführungspraxis im instrumentalen Bereich die Aufführung barocker Werke, namentlich von Opern, oft überhaupt erst wieder möglich. Mittlerweile okkupieren die „Counters“ sogar Partien wie Mozarts Cherubino (David Hansen) oder das Liedgut späterer Jahrhunderte (Philipp Jarousskys Opium-Programm); sie haben sich auch im Pop-Bereich etabliert. Der historische Kastratengesang wird also nicht einfach kopiert, sondern fortentwickelt und repertoiremäßig erweitert. Kastrationen für Belange des Gesangs gibt es heutzutage natürlich nicht mehr, so dass die einstige Faszination an dem androgynen, oft aber auch athletischen Gesang akustisch nicht belegbar ist, mit Ausnahme der Titel, welche Alessandro Moreschi, einer der letzten Kastraten, zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufnahm. Aber ihre Aussagekraft ist begrenzt.
Genitales Verstümmeln begann in der Antike (Eunuchen) und setzte sich, für künstlerische Zwecke, in der Renaissance fort. Das Barockzeitalter setzte dann markante Höhepunkte mit teilweise spektakulären Karrieren. Jene von Carlo Broschi alias Farinelli schilderte 1994 ein Film von Gérard Corbiau, der es mit historischen Gegebenheiten allerdings nicht ganz genau nahm. Schon die Attraktivität des Hauptdarstellers Stefano Dionisi bedeutete eine Verklärung. Bei den Kastraten im wirklichen Leben entwickelten sich aufgrund des chirurgischen Eingriffs eher abnorme Körperformen. Die Hypothek einer solchen Verunstaltung garantierte im Übrigen keineswegs die erhoffte große Laufbahn, denn musikalisch-stilistische Fähigkeiten waren im Knabenalter keineswegs verlässlich voraussagbar. Das umfangreiche, materialschwere Buch von Corinna Herr (eine ehemalige Habilitationsschrift) unterschlägt die daraus resultierenden Tragödien durchaus nicht.
Wie kam es überhaupt zu dieser Entwicklung? Es gibt eine ganze Reihe mehr oder weniger bestimmender Einflüsse. Zum einen waren in der seinerzeit maßgeblichen Capella Papale (päpstliche Sängerkapelle) Knabenstimmen nicht zugelassen, also mussten für den Alt- und Diskantbereich Männer mit Falsett-Fähigkeiten herangezogen werden. Diese Praxis erledigte auch das Problem von Frauenfeindlichkeit in der damaligen Aufführungspraxis. Da aber andererseits die Sopranstimme mit dem Gesang der Engel gleichgesetzt wurde, waren Knaben prinzipiell sehr gefragt, ebenso Kastraten, bei denen der körperliche Eingriff mit dem heiligen Ziel einer vox coelestis legitimiert wurde. Diese Einstellung war freilich nicht einhellig, mitunter sogar widersprüchlich. So sprach sich Papst Benedikt XIV öffentlich gegen die Kastration aus, ließ aber einschlägige Sänger bei sich beschäftigen. Die auch sonst ausgesprochen heterogenen Einstellungen belegt Corinna Herr mit mannigfachen Äußerungen. Dass diese nicht immer ganz eindeutig sind, verschweigt die Buchautorin nicht. Über die Terminologie des hohen Männergesangs äußerst sich Corinna Herr tiefschürfend, fast schon mikroskopisch, so dass das Lesen mitunter zur Geduldsprobe wird. Eine etwas abgespeckte Version wäre der Breitenwirkung des Buches sicher förderlich. Aber die Fülle des verarbeiteten Materials (nicht zuletzt ablesbar in den Anmerkungen und Hinweisen auf Sekundärliteratur) hat etwas durchaus Überwältigendes.
Der Kastratengesang währte knappe drei Jahrhunderte und endete im Opernbereich mit Gioacchino Rossinis Tancredi und Giacomo Meyerbeers in Il crociato Egitto. Eine langsame Aufweichung von strengem Stimmfachdenken zeigte sich zuvor schon in der Reformoper Orfeo ed Euridice von Christoph Willibald Gluck. Die Titelpartie wurde zunächst für einen Alt-Kastraten geschrieben, dann in das entsprechende Sopranfach verlagert und schließlich nochmals für den französischen „Haut-Contre“ (hohe Männerstimme mit Brustregister) bearbeitet. Diese unterschiedliche vokale Spezifizierung setzt sich bei den heutigen Counter-Interpreten fort, wo kaum ein Timbre dem anderen gleicht und wo auch der Stimmumfang differiert. Das Nebeneinander von fünf Falsettisten in Leonardo Vincis Artaserse machte das bei diversen Aufführungen (kürzlich nochmals in Köln) schlagend deutlich. Und dann tritt auch noch ein veritabler männlicher Sopranist wie Radu Marian hinzu (er imaginiert wohl am reinsten die historische Kastratenstimme). Der Pole Jacek Laszczkowsk macht sich überdies einen Spaß daraus, das Trinklied aus Giuseppe Verdis La Traviata im schnellen Wechsel zwischen Tenor und Sopran zu absolvieren (YouTube). Show war wohl auch bei den Kastraten schon immer mit dabei.
Christoph Zimmermann
Köln, 10.03.2014