Hinrichsen, Hans-Joachim: Beethoven. Die Klaviersonaten. – Kassel [u.a.]: Bärenreiter, 2013. – 464 S.: Abb., Notenbsp.
ISBN 978-3-7618-1890-9 : € 39,95 (geb.)
Wahre Monumente der Musikgeschichte sind nicht in Erz gegossen. Gerade ihr Potenzial an wechselnden Perspektiven, an Unverhofftem, Vieldeutigem macht die Beschäftigung mit ihnen zu allen Zeiten brisant und spannend – praktisch, theoretisch oder interdisziplinär. Vor diesem Hintergrund gelingt Hans-Joachim Hinrichsen, Musikanalytiker mit Schwerpunkt 18. bis 20. Jahrhundert und Lehrstuhl in Zürich, die exorbitant informative Globaldarstellung eines im Ganzen wie in Details bereits intensivst ausgeschöpften Werkzyklus: der Klaviersonaten Beethovens.
Hugo Riemann, Jürgen Uhde oder Joachim Kaiser verfassten bleibende Standardwerke. Hinrichsen setzt eines hinzu, und zwar, wie er hofft, nicht den Schlussstein. Doch wo liegen Mehrwert und Aktualität? Gegliedert als Handbuch mit auch separat stimmigen Werkbetrachtungen und Exkursen, erschließt es das Einzelwerk und seinen musikhistorischen Rang gezielt aus Querverbindungen im Kontext der Werkgruppe. Zu deren umfassendem Verständnis führt nur die Gesamtlektüre des Bandes, in welchem Redundanzen bewusst gesucht statt gemieden werden. Schließlich beschäftigte den Wiener Klassiker die Domäne Klaviersonate, die er zu einem bis heute unüberbotenen Höhepunkt führte, von Bonner Jugendtagen bis ins Spätwerk.
Für die inhaltlich spezielleren, in Gänze nur mit musiktheoretischer Vorkenntnis uneingeschränkt zu genießenden Kapitel liefert ein Prolog die knapp und konzentriert angelegte Verständnisgrundlage: Beethovens Weg vom kurfürstlichen Bonn ins Wien der aufziehenden Restauration, die einstweilige Abhängigkeit des Freischaffenden vom Mäzenatentum des Adels, die Verwurzelung der Sonatenproduktion als Medium des geistigen Austauschs im privaten Raum, Beethovens von Schiller inspiriertes Verständnis seiner Kunst als „Vehikel zur Beförderung der Humanität“ (S. 25) – eine Formel, die Hinrichsen in den Exkursen (z. B. „Poetische Idee und musikalischer Inhalt“ oder „Pathos und Humor“) unter Berufung auf Beethovens Teilhabe an der idealistischen Ästhetik ideengeschichtlich eingehend aufarbeitet. So erstaunt mancher Nachweis, inwieweit etwa scheinbar düster-impulsive Seiten eines Werks wie der Appassionata realiter „integraler Bestandteil eines übergreifenden Konzepts“ (S. 268) auch optimistischer Natur sind.
Geistige Werte und Gehalte modelliert Hinrichsen in erster Linie aus pointierter Analyse des Notentextes. Akzente liegen dabei auf Beethovens Genie der Formbehandlung (Experimente mit Sonatenform und -rondo), Integration des Heterogenen (Fuge im Spätwerk), Prozessualitäten (Skizzen, Editionshistorie) und Reflektieren von Musik via Musik. Weitsichtige Reflexion des eigenen Tuns prägt auch Hinrichsens Epilog zur ideologisch wechselhaften Rezeption: Aktuelle Auslegungen von Beethovens Sonaten dürfen nicht die letzten sein. Für den Stand 2013 zumindest leistet Hinrichsens Opus ein Maximum.
Andreas Vollberg
Köln, 05.01.2014