Beethoven aus der Sicht seiner Zeitgenossen in Tagebüchern, Briefen, Gedichten und Erinnerungen / Hrsg. von Klaus Martin Kopitz und Rainer Cadenbach u. Mitarb. von Oliver Korte u. Nancy Tanneberger. – 2 Bde. – München: Henle, 2009. – XXIX, 1.189 S.: Abb.
ISBN 978-3-87328-120-2 : € 279,00 (geb.)
Beethoven Handbuch / Hrsg. von Sven Hiemke. – Kassel: Bärenreiter, 2009. – X-XII, 628 S.
ISBN 978-3-7618-2020-9 : € 76,00 € (geb.)
Obwohl kein absatzförderliches Gedenkjahr in Sicht ist, erscheinen in letzter Zeit immer wieder inhaltlich und physisch schwergewichtige Titel über Leben und Werk Ludwig van Beethovens (1770–1827). 2008 ist bspw. beim Laaber-Verlag das Beethoven-Lexikon erschienen [zugleich sechster Band des Beethoven-Handbuchs, Rez. s. FM 30 (2009), S. 144f.], und nun sind schon wieder zwei „Beethoven-Folianten“ auf dem Markt. Doch in der anhaltenden Wirtschaftskrise und einer folglich prekären Haushaltssituation stellen solche Veröffentlichungen die Bibliothekare vor ein Dilemma: Einerseits sollen gerade die Nachschlagewerke aktuell sein und dem Publikum, das sich selbst so teure Anschaffungen nicht leisten kann, umfassende Auskunftsmöglichkeiten bieten – auf der anderen Seite muss man sich aber den Sparzwängen unterwerfen.
Eine wertvolle Ergänzung zum 1987 von Stefan Kunze bei Laaber herausgegebenen Dokumentenband Ludwig van Beethoven. Die Werke im Spiegel seiner Zeit mit seiner großen Anzahl zeitgenössischer Presseberichte stellt die jetzt erschienene Sammlung mit persönlichen Zeugnissen aus dem Umfeld des Komponisten dar – wie vielfältig diese sein können, geht bereits aus der weitschweifigen Titelgebung hervor. Im Vorwort räumt Klaus Martin Kopitz zwar ein, dass es solche Kompilationen immer wieder gegeben habe, doch unterscheide sich hiervon die vorliegende in quantitativer und qualitativer Hinsicht: „In ihrem Umfang reicht sie weit über frühere Ausgaben dieser Art hinaus und gibt die Quellen erstmals philologisch getreu sowie mit wissenschaftlichen Kommentaren versehen wieder.“ Daneben sei „eine größere Anzahl weiterer neuer Texte … speziell für diese Edition erschlossen“ worden (etwa Tagebücher oder Briefe). Zunächst stellt sich die Frage nach einer übersichtlichen Aufbereitung des immensen Materials. Als einfache, letztlich aber einzig überzeugende Lösung ordnete man die inhaltlich vielfältigen Dokumente nach ihren Urhebern – von der Schauspielerin Antonie Adamberger (Darstellerin des Klärchens bei der Uraufführung von Beethovens Schauspielmusik zu Egmont) über Ambrosius Kühnel (zwischen 1801 und 1805 Erstverleger einiger Werke, vom säumigen Komponisten 1810 aber schwer enttäuscht: „Beethoven verspricht stets, schickt aber nie“) bis zu Nikolaus Zmeskall, einem der wichtigsten Wiener Freunde; jeder Teil beginnt mit einer Kurzbiografie des betreffenden Verfassers. Die schier unerschöpfliche Informationsfülle wird durch ein Werk- und ein Personenregister erschlossen, so dass gezielte Recherchen leicht möglich sind. Darüber hinaus lohnt sich aber auch das unsystematische Schmökern – man wird garantiert auf bisher unbekannte Details aus Biografie und Schaffen Beethovens stoßen. Das Loch, das der stolze Preis in den Beschaffungsetat reißt, sollte verschmerzt werden können.
Eine entsprechende Äußerung zum Beethoven Handbuch ist hingegen nicht ganz so einfach, was allerdings weniger mit der Qualität der hier versammelten Beiträge zusammenhängt – doch es gibt bereits Nachschlagewerke zu dem Thema, und viele Einzelaspekte werden auch andernorts behandelt. Die Aufgabe eines Handbuchs besteht weniger aus der Veröffentlichung neuer Erkenntnisse als vielmehr in der Zusammenfassung der bisherigen Forschungen; was man sich sonst aus verstreuten Publikationen mühsam zusammentragen müsste, soll nun gebündelt und möglichst übersichtlich dargeboten werden. Die verschiedenen Autoren des vorliegenden Bandes befassen sich weniger mit der persönlichen Biografie Beethovens als vielmehr mit dessen künstlerischer Bedeutung. In mehreren, nach Gattungen geordneten Teilen wird sein Schaffen vorgestellt, wobei jeweils eine Einleitung mit grundsätzlichen Erläuterungen in den betreffenden Bereich einführt; während sich diese Abschnitte immer als lesenswert erweisen, vermisst man bei den Besprechungen der einzelnen Werke eine systematisch knappe Darstellung (das Fidelio-Kapitel bildet dabei eine vorteilhafte Ausnahme). Wer sich zunächst grundlegend etwa über eine bestimmte Sinfonie informieren möchte (Entstehung, Besetzung, Uraufführung, Erstausgabe, Wirkungsgeschichte), der wird enttäuscht – stattdessen verfallen die Autoren zumeist in den Ton eines gehobenen Konzertführers (leider ohne die unabdingbaren Notenbeispiele!). Neben den Werkbesprechungen stehen andere Kapitel, von denen etwa das erste, „Beethoven und seine Welt“ (Martin Geck), ebenso knapp wie informativ und zugleich verständlich die Bedeutung des Komponisten skizziert; dies entspricht dem Charakter eines Handbuchs aufs Beste, und die Lektüre lohnt sich wirklich. Der letzte Teil über die Beethoven-Rezeption (Hans-Joachim Hinrichsen) zeichnet dann die Entwicklung des nationalistisch eingefärbten Heroen-Kults nach, der im 19. Jahrhundert begonnen hat und (inzwischen allerdings weitgehend ohne patriotische Komponente) fast noch in der Gegenwart besteht. Natürlich kommt auch die Vereinnahmung Beethovens durch die Nazis zur Sprache (darunter etwa Elly Neys völkisch geprägte Beweihräucherungen); doch gerade hier hätte man mehr erwarten dürfen, weil es an grotesken Verirrungen wirklich nicht mangelt – von Arnold Scherings Interpretation der „Fünften“ als „Sinfonie der nationalen Erhebung“ bis zu den zahllosen Festaufführungen der Befreiungsoper Fidelio ausgerechnet zu „Führers Geburtstag“. Bei einem gediegenen Auskunftsbestand sollte man sich die Anschaffung jedenfalls gut überlegen.
Georg Günther
Zuerst veröffentlicht in FM 30 (2009), S. 356ff.