Der Kanon der Musik. Theorie und Geschichte. Ein Handbuch / Hrsg. von Klaus Pietschmann und Melanie Wald-Fuhrmann ‑ München: edition text + kritik, 2013. – 950 S.: Abb., Notenbsp.
ISBN 978-3-86916-106-8 : € 79,00; Subskriptionspreis bis 31.10.: € 69,00 (geb.)
Den Kanon der Musik – gibt’s den? Auch der provokant mit zwei bestimmten Artikeln im Singular ausgestattete Buchtitel will dies „nicht wirklich“ behaupten. Der Sammelband beschäftigt sich ausdrücklich – wie der Untertitel kundtut – mit Theorien und der Geschichte von versuchten Kanonisierungen (in) der Musikgeschichte. Er ist Kongressbericht einer Tagung aus dem Jahr 2008 und tritt als Handbuch auf, was wohl besagen soll, hier sei alles zu finden, was im Moment (also vor fünf Jahren) zum Thema nachschlagefähig zu sagen war und ist. Damit haben die Herausgeber gar nicht so Unrecht, denn schon die Tagung selber konnte sich an eine ca. 20‑jährige diesbezügliche Diskussion in Deutschland und Nordamerika anhängen. Mancher der Vorträge konnte sich als zusammenfassende und schlussfolgernde Stellungnahme oder als empirisch vertiefende Detailstudie zu dieser Debatte verstehen. Insofern ist das vorliegende Buch wirklich eine der wichtigen Publikationen, nicht nur der Saison. Schon die aktuelle Einführung der Herausgeber will die Wogen zwischen einem bloßen Pro und Kontra glätten und den Blick frei machen für die nun folgenden Beiträge. Diese befassen sich unpolemisch mit einer beschreibenden Phänomenologie und Historiographie von Kanonisierungen und deren Kriterien und bieten einzelne unser historisches Wissen weiter auffüllende Fallstudien über vergangene (sogar chronologisch angelegte) Kanonphänomene.
Die Frage nach einem Kanon, einer Bestenliste für die Musikgeschichte könnte man als musikalischer Weltbürger ‑ wie auch die Unterscheidung zwischen U‑ und E‑Musik ‑ als ein typisch deutsches Phänomen rechts liegen lassen. Aber sie hat in den USA (vielleicht sogar verursacht durch die Wirksamkeit deutscher Emigranten) eine bis heute anhaltende Debatte ausgelöst. Ein von vielfältigen und unvoreingenommenen Erfahrungen gespeistes musikalisches Weltbürgertum würde sich vor allem dadurch auszeichnen, dass es den lebendigen Dialog der Kulturen, Epochen, Stile, Komponisten und Werke in ihren realen Wechselbeziehungen ernstnähme. Es könnte eine Reduktion des Interesses der Musikliebhaber wie der -kenner auf eine qualitative Rangliste von musikalischen Personen und deren Werken nur als Entmächtigung der Urteilskraft zurückweisen. Selbst eine long list der Spitzenleistungen, in der auch die produktiven Vor(be)reiter und Epigonen mit versammelt wären, könnte einen auf die Taten der Musik neugierigen Menschen nicht in den Schranken eines Kanons halten. Dessen Anspruch auf Qualitätssicherung steht auf ebenso dogmatischen wie tönernen Füßen.
In der Literaturgeschichte hat bisher nur ein päpstlich auftretender Kritiker sich angemaßt, den Kanon der Literatur als objektiv verbindlich zu formulieren, mit dem hybriden Argument, er (MRR) wolle damit den Absturz in die Barbarei verhindern. Dankenswerterweise hat er nicht nur eine Liste überbracht, sondern auch die Werke gleich ausgedruckt mitliefern lassen. Es ist nicht bekannt, ob diese Buch-Kassetten irgendjemanden am Aufbau einer an eigenen Gesichtspunkten orientierten Privatbibliothek gehindert haben. Aber über jenen Kanon konnte man zumindest konkret streiten: ob er wenigstens als Grundstock tauge, die Vielfalt und Komplexität der Literatur annähernd widerspiegle oder nur die Zusammenballung der privaten Lieblingsbücher eines viele Aspekte der Literatur ignorierenden Kunstrichters darstelle. Frank Hentschel geht auf das Beispiel der Verwechslung von Kanon mit einer privaten Favoritenliste ein. Er ist auch der einzige Autor der Sammlung, der die Bildung eines Kanons für Musik als fraglich, unrealistisch, unnütz und verdummend ansieht. Denn was für eine kulturelle Barbarei ist es, die Kunst aller Zeiten und Länder in einen vererbbaren Besitz von bestimmten auserlesenen, „erfolgreichen“ Kulturgütern zu verwandeln, über die der Erbe dann in guter Gesellschaft, nur der Besten, der Sieger, der Lichtgestalten verfügen soll?
Auf dem Feld der Musik hat es bisher noch niemand (nicht einmal Joachim Kaiser) gewagt, einen solchen Kanon zu formulieren. Es gibt ‑ was noch gefährlicher ist ‑ diesen Kanon nur als Phantom, als Gerücht, als Sammelsurium von Versatzstücken, derer man sich bedienen kann. Manchmal ist er versteckt in Vorschlägen für angehende Musikstudenten oder interessierte Laien. Vielleicht sollen die gerade auf den Markt geworfenen und beworbenen 100 CDs „Die Geschichte der klassischen Musik“ mit 80 Komponisten und 400 Werken und das 250-seitige booklet von Jeremy Nicholas ein klingender Kanon („Reiseführer“ heißt es) sein.
In dieser schwammigen Situation die Frage aufzuwerfen, ob wir einen Kanon brauchen und wie er aussehen könnte, ob er schon in akzeptablen und gerechtfertigten Grundzügen besteht oder ob ein solches Ansinnen nicht eher eine Gefahr darstellte, ist äußerst sinnvoll und angesichts der Ausdünnung des Kernrepertoires des bürgerlichen Musikbetriebs mehr als dringlich. Gerade auch, weil die Versuche am Rande des Betriebs (vornehmlich durch Spezialensembles und die so genannte freie Szene), das Repertoire zu vertiefen, den Horizont zu weiten, die unendlichen Bezüge innerhalb der Musikgeschichte aufzudecken, wieder rückläufig sind.
Insofern kommt das Buch gerade zur rechten Zeit, bleibt aber hinter der Brisanz des Themas zurück. Denn das entscheidende Kapitel I, das eigentlich eine kritische „Gegenstandsbestimmung“ geben sollte, ist in seinen Beiträgen entweder terminologisch verengt oder lässt zu viel in der Schwebe. Karol Berger versucht einleitend, Nietzsches Warnung (man solle über etwas, das historisch ist, nicht definitorisch reden) in den Wind schlagend, den Kanon als die normative Kette der maßgeblichen, erfolgreichen Werke vorzustellen. Seine Hinweise auf die wirkungsmächtigen Werturteile und autoritativen Diktate durch persönliche Lobreden beispielsweise für Beethovens späte Streichquartette (Berger nennt den predigenden Wagner, noch wichtiger wäre wohl der spielende Joseph Joachim gewesen) können aber nicht erklären, warum die Quatuors concertants Cherubinis, deren erstes Beethoven selbst favorisierte, heute (weder im Kanon der Wissenschaftler, noch im Repertoire der praktischen Musiker) kaum noch eine Rolle spielen. Der ganze Aspekt einer fragwürdigen Tradition, die sich auf Geschichtsklitterungen, Mythen, Überhebungen und Unterschlagungen stützt, kommt hier nicht zur Sprache. Die nicht etwa wegen mangelnder Qualität in der Stille Stehenden (Grétry mit seinen Opern, Vorisek mit seinen Impromptus, Clementi mit seinen Sonaten, Field mit seinen Nocturnes, Spohr mit seiner Ensemblemusik, Hensel mit ihren Kantaten, Onslow mit seinen Streichquintetten, überhaupt alle komponierenden Frauen) hört man nicht. Dabei soll es möglichst bleiben, darum redet man viel über die Kanoniker des Kanons und nicht darüber, wer und was in einen von Usurpation, unbegründeten Qualitätsansprüchen und Legenden freien musikalischen Kanon gerechterweise mit hineingehörte. Der von Walter Benjamin herbeigewünschte „distanzierte Betrachter“ der siegreichen Kette sogenannter Kulturgüter bleibt wieder einmal auf der Strecke. Nur wer an der Oberfläche der bereits kanonisierten, sich ständig performativ selbstkanonisierenden Werkreihe bleibt, kennt keine verborgenen, verschütteten Traditionen, denen gegenüber die offizielle Tradition nur die von Mahler berufene Schlamperei (man könnte auch sagen einen Moloch) darstellt.
Anselm Gerhard hat auch nach 13 Jahren, als sein Beitrag zum ersten Mal erschien, Recht mit der Darstellung des Kanons als einer zwar überholten aber quicklebendigen nationalistischen Gewohnheit. Schön und aufschlussreich ist es zu verfolgen, wie sich die beiden Beiträge von Frank Hentschel und Michael Walter aneinander reiben, ohne sich aufeinander beziehen zu können; hier steht eine radikale Skepsis über eine erfahrungsfeindliche, domestizierte Verengung des Blickes auf das Beste, Wahrste und Schönste (statt nach dem jeweils Bedeutsamen zu fragen, wenn es beispielsweise um das Verhältnis von Musik und Kirche oder Musik und Revolution geht) gegen einen festen Glauben an die Berechtigung und die Nützlichkeit von ästhetischen Werturteilen. Bei Walter wird die Frage nach verschiedenen, erst zu begründeten Wertmaßstäben erst gar nicht gestellt, sondern schlicht vorausgesetzt, dass motivische Arbeit eo ipso einen höheren Wert hat als eine pfiffige Melodie.
Knapp 500 Seiten des Bandes befassen sich im Kapitel II mit historischen Fallbeispielen von geglückten und gescheiterten temporären Kanonbildungen vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Wie bei Kongressberichten zu erwarten, findet sich hier manche Perle quellenkritischer und interpretatorischer Arbeit. Im Kapitel III werden „mediale und systematische Aspekte der Kanonbildung“ referiert. Hier geht es um die Wirksamkeit von Komponisten als Agenten ihres Nachruhms (Fabian Kolb), die Macht von Namen (Katelijne Schultz), Notendrucken (Jürgen Heidrich), Lautsprechern (Martin Elste), Porträts (Andrea Gottdank) und überhaupt darum, wie der Kanon mit der gesellschaftlichen Ökonomie zusammenhängt (Friedrich Geiger und Tobias Janz).
Die schlechte Form und Wirkung eines Kanons als Hit-Parade wäre wohl erst gebrochen, wenn keiner mehr wüsste, wer oder was gemeint sein soll, wenn mal wieder von DEM Thomaskantor, DER Missa solemnis, DEM Klavierkonzert Tschaikowskis, DEM Violinkonzert Bruchs oder dem „Meister von Bayreuth“ die Rede wäre.
Peter Sühring
Berlin, 17.10.2013