Christoph Henzel: Berliner Klassik. Studien zur Graunüberlieferung im 18. Jahrhundert

Henzel, Christoph: Berliner Klassik. Studien zur Graunüberlieferung im 18. Jahrhundert. – Beeskow: ortus musikverlag, 2009. – 445 S.: Notenbsp., Abb. (ortus studien ; 6)
ISBN 978-3-937788-15-9 : € 49,50 (brosch.)

Vor 250 Jahren starb Carl Heinrich Graun (1704–1759). Die musikhistorisch interessanten Erkenntnisse, die Christoph Henzel während seiner Arbeit am Werkverzeichnis der Brüder Graun [s. Rez. in FM 29 (2008), S. 256–258] aufgingen, hat er nun dankenswerterweise gesammelt und noch im Graun-Jahr in einem profunden Buch veröffentlicht. Man gewinnt einen einmaligen Einblick in die Entstehung einer musikgeschichtlichen Konstruktion, die mit „Berliner Klassik“ benannt ist. Etwas als klassisch, d.h. als normativ und mustergültig zu betrachten, ist ja immer ein Produkt der Mit- oder Nachwelt, die auf solche, die Überlieferung prägenden und handlich machenden Titel und Etiketten nicht verzichten kann. So war und ist es im Falle der so genannten Wiener Klassik, und so ist es auch mit den Etiketten „Preußischer Stil“, „Preußischer Barock“, „Friderizianischer Stil“ und „Berliner Klassik“. Henzel verfolgt akribisch die verschiedenen Stufen der Verfestigung solcher Klischees, die natürlich immer auch einen realen Kern haben, der vielleicht immerhin die halbe Wahrheit ausmacht. Eine schon von C. F. D. Schubart ausgemachte „Berliner Schule“ entbehrt natürlich nicht realer Anhaltspunkte im Rahmen der idiomatisch erkennbaren norddeutschen Musikkultur. So gibt es auch eine beschreibbare Opernästhetik des preußischen Königs Friedrich II., die er sich zwischen den Traditionen der italienischen und französischen Oper zurechtlegte und der zu folgen er auch seinen bestallten Hofkomponisten abverlangte.
Und so ist zweifellos vieles, was wir an Carl Heinrich Grauns Opern oder geistlichen Vokalwerken oder an der Kammermusik seines Bruders Johann Gottlieb heraushören, mögen oder verachten können, auf dem Dünger eines Diskurses gewachsen, an dem viele Rezipienten und Überlieferer, die Henzel untersucht, teilgenommen haben. Reichardt, Hiller, Kirnberger, Marpurg und Zelter – alle haben sie ihr Scherflein dazu beigetragen, um ein Bild der Brüder Graun entstehen zu lassen, das sich erst bei genauerem Vergleich mit den überlieferten Kompositionen relativieren lässt. Genau in dieser akribischen Relativierung kursierender Gemeinplätze anhand der realen Überlieferung in etlichen Archiven besteht der große Gewinn dieser Arbeit. Es gelingt dem archivarisch und überlieferungsgeschichtlich vorgehenden Autor, dabei so manche Legende, etwa die vom „sanften Graun“ oder die von der Bevorzugung der Hasseschen Opernmusik durch Friedrich II., zu zerstreuen.
Abschließend plädiert Henzel aber aufgrund der historischen Debatten der Zeitgenossen der Brüder Graun, die durchaus selbst schon ein Epochenbewusstsein hatten, den Begriff einer „Berliner Klassik“ nicht fallen zu lassen, ihn im Gegenteil als Ausdruck eines zutreffenden Selbstbewusstseins norddeutscher Operndramaturgie, Sinfonik, Instrumental- und Kirchenmusik gelten zu lassen, welche bis heute in der kanonischen Musikgeschichtsschreibung eher zugunsten der süddeutschen Schulen ausgeblendet werden.

Peter Sühring
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 30 (2009), S. 342

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