Martensen, Karin: Die Frau führt Regie. Anna Bahr-Mildenburg als Regisseurin des Ring des Nibelungen. Mit einem Anhang: Regiebücher zu Walküre, Siegfried und Götterdämmerung – München: Allitera, 2013. – 564 S.: Abb., Notenbsp. (Beiträge zur Kulturgeschichte der Musik ; 7)
ISBN 978-3-86906-506-9 : € 54,00 (Pb.)
Mit Die Frau führt Regie legt die deutsche Musikwissenschaftlerin Karin Martensen erstmals eine auf umfangreichen Quellenrecherchen basierende, fundierte Analyse und Würdigung der Arbeit einer jener wenigen Künstlerinnen des Fin de siècle vor, die sich beruflich mit Regiearbeit befassten oder gar als Regisseurin die Verantwortung für große Projekte übernahmen: Es handelt sich um Anna Bahr-Mildenburg, eine der wichtigsten Opernsängerinnen ihrer Zeit, deren Darstellungsstil insbesondere in Bezug auf die Werke Richard Wagners lange Zeit hindurch von großem Einfluss war.
Den zentralen Dreh- und Angelpunkt der als Dissertation an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover entstandenen Publikation bildet Anna Bahr-Mildenburgs Inszenierung des Ring des Nibelungen am Prinzregententheater in München in der Spielzeit 1921/22 bzw. 1922/23. Dabei ruht das Augenmerk der Autorin neben der Performativität auch auf der dem Thema innewohnenden Genderproblematik, denn, wie Martensen einleitend festhält, war „die große Wagner-Heroine Anna Bahr-Mildenburg [...] nach Cosima Wagner die erste Frau, der ein so großes und bedeutendes Projekt als Regisseurin anvertraut wurde.“ (S. I)
Das Resultat: Eine wissenschaftlich sorgfältig gearbeitete und zweifellos verdienstvolle Neuerscheinung, die unbestritten ein musikgeschichtliches Desiderat aufgearbeitet hat. Den Inhalt klassisch gliedernd in eine Methodik und Quellenmaterial vorstellende und durchaus kritisch diskutierende Einleitung und ein erstes, das historische Umfeld des Fin de siècle und der Wiener Moderne erschließendes biographisches Kapitel mit berechtigt kulturgeschichtlichem Anspruch führt Karin Martensen hin zum zweiten Kapitel, das den Hauptteil der Publikation bildet und mit „Performativität im Werk Anna Bahr-Mildenburgs“ (S. 73ff) betitelt ist. Martensens Vorgehen ist dabei alles andere als oberflächlich. Die zahlreichen von der Autorin in die Sichtung des umfangreichen, wenn auch recht weit verstreuten Materials von und über Bahr-Mildenburg investierten Arbeitsstunden sind spürbar; die Mühe hat sich jedoch gelohnt. Anhand von bislang unaufgearbeiteten Archivalien wie Briefen und Tagebuchpassagen der Künstlerin, vor allem aber mit Hilfe von Klavierauszügen und Regiebüchern zum Ring aus deren Nachlass im Theatermuseum Wien bzw. im Forschungsinstitut für Musiktheater im Schloss Thurnau (vgl. S. 198) kann Martensen belegen, dass es sich dabei um „für die Opernregie ihrer Zeit [...] singuläre Erscheinungen“ (S. 260) handelt. Der immense Detailreichtum der Regieanweisungen, der unter anderem Mimik, Gestik und Stimme der DarstellerInnen exakt festschreibt und kaum Raum für individuelle Rollengestaltung lässt, ermöglicht heute eine wissenschaftliche Analyse der an sich nicht wiederholbaren performativen Elemente jener längst vergangenen Münchner Aufführungen (vgl. S. 261).
Für Anna Bahr-Mildenburg, die gegenwärtig dem einschlägig versierten Publikum hauptsächlich als gefeierte Wagner-Darstellerin bekannt sein dürfte (vielleicht auch durch die Beziehung zu ihrem Förderer Gustav Mahler oder die Ehe mit dem Literaten Hermann Bahr, einer Schlüsselfigur der Wiener Moderne), waren die Regiebücher Teil ihres Erbes: „Meine Kunst wird in einigen Regiebearbeitungen zurückbleiben.“ (zit. n. S. 261) Diese im wissenschaftlichen Diskurs häufig relativierten oder gar negierten Leistungen Bahr-Mildenburgs als Regisseurin, die ihr Fundament in der unmittelbaren Bühnenerfahrung der Künstlerin haben, hinterfragt Martensen durchaus kritisch. Dabei werden jedoch auch zahlreiche, immer wieder unreflektiert weitertradierte Ungenauigkeiten und Vorurteile aufgedeckt, die das bisher sehr unvollständige Gesamtbild dieser sich eben nicht nur auf den Bereich der Operndarstellerin beschränkenden Leistungen bislang geprägt haben. Martensen gelingt es somit, vorgefasste Meinungen zur scheinbaren Rückwärtsgewandtheit der Mildenburg’schen Inszenierungen zu relativieren.
Ein gut befülltes Schatzkästlein stellt schließlich der Anhang zu Karin Martensen Publikation dar. Er umfasst nicht nur Briefe, Bühnenzeichnungen und Bühnenfotos, sondern vor allem auch die Abschriften der Regiebücher der Walküre, des Siegfried und der Götterdämmerung. Besonders hervorzuheben ist auch der um 1920 entstandene, hier vollständig abgedruckte „Vortrag über Musik und Gebärde“ Anna Bahr-Mildenburgs.
Regiearbeit zwischen Werktreue und Texttreue, facettenreich um die Komponente der Genderproblematik ergänzt und unter kritischer Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlichen Diskurs – es ist ein Thema, das vor allem ein kulturwissenschaftlich orientiertes Fachpublikum ansprechen wird. Karin Martensens seriös gearbeitete und gut aufbereitete Darstellung einer der ersten Opernregisseurinnen kann all jenen Leserinnen und Lesern klar empfohlen werden, die genügend Interesse und Sitzfleisch mitbringen, sich durch den doch recht beträchtlichen Umfang hindurchzuarbeiten. Erkenntnisgewinn garantiert.
Michaela Krucsay
Leoben, 21.09.2013