Schenk, Sylvie: Bodin lacht. Roman - Wien: Picus, 2013. - 303 S.
ISBN 978-3-7117-2005-4 : € 22,90 (geb.)
Es ist ein – nicht immer ganz freiwilliges – Eintauchen in die menschliche Psyche: Wer hier einen simplen, traditionellen Strickmustern verpflichteten Krimi erwartet, ist mit diesem Buch schlecht beraten. Die in Aachen und La Roche de Rame (FR) lebende Autorin Sylvie Schenk legt mit Bodin lacht ihren siebten Roman vor. Und Schenk versteht es, mit den von ihr heraufbeschworenen Bildern von Anfang an zu fesseln, in eine nur scheinbar abnorme Welt zu entführen und die (zunächst wahrscheinlich meist widerstrebende) Leserschaft mit unsichtbaren Fäden an ihre Protagonisten zu knüpfen.
Und diese Protagonisten sind durchaus schillernd. Im Zentrum des Geschehens stehen der Biologiestudent Martin, ein auf der Suche nach nach seiner „wahren“ Identität befindlicher Zwitter, dessen mondäne, aber mit der eigenen Lebenssituation (und dem Hermaphroditismus ihres Sohnes) überforderte Mutter Paula, deren ehemaliger Geliebter, ein unter Burnout und einem Kindheitstrauma leidender Psychiater namens Jürgen Bodin und schließlich die Polizistin Liliane Hoffmann, die ebenfalls mit einem ihr Leben überschattendes Geheimnis aus der Vergangenheit ringt. Diese Nicht(?)-Durchschnittstypen gruppieren sich um den Mordfall an einer talentierten und allseits beliebten jungen Pianistin. Doch letztlich sind es nicht die Ermittlungsarbeiten, die im Zentrum des Geschehens stehen. „Bodin lacht“ ist weit eher eine Geschichte über Selbstfindung, die den Terminus „normal“ in Frage stellt, ein allzu offensichtliches Sich-Bedienen an gängigen Klischees jedoch weitgehend umschifft. Ohne die Ernsthaftigkeit der von ihr behandelten Themen in Frage zu stellen und ihre Protagonisten ins Lächerliche zu ziehen, gelingt es Sylvie Schenk, durch feine Ironie den Blick in die Abgründe der menschlichen Seele von seiner Schwere, seinem Sog zu befreien. Mit einem Augenzwinkern plädiert die Autorin für das Recht des Psychiaters auf die eigenen Neurosen.
Erst auf den zweiten Blick erschließt sich zudem formal Interessantes: In Konvergenz mit der künstlerisch ansprechenden Gestaltung des Schutzumschlages, der die spiralförmig angeordneten Felder eines Gänsespiels zeigt, ist auch der Text selbst in 63 „Felder“ anstatt in Kapitel unterteilt. So wird das Gänsespiel in seiner symbolischen Bedeutung des unberechenbaren Spiels des Lebens zu dem zentralen Motiv, das sich stets unterschwellig, aber konsequent durch den gesamten Roman hindurch zieht und die zunächst nur lose miteinander verwobenen Handlungsstränge miteinander verknüpft. Ihrem Kapitel Nr. 52 (dem Feld „Gefängnis“ entsprechend) stellt Schenk einen Vers Johann Wolfgang von Goethes aus dem West-östlichen Diwan als Motto voran: „Das Leben ist ein Gänsespiel / Je mehr man vorwärts gehet / Je früher kommt man an das Ziel / Wo niemand gerne stehet“ (zit. n. S. 255).
Die Idee, jedes neue Kapitel mit einem inhaltlich korrespondierenden Zitat zu beginnen, ist natürlich keineswegs neu. Wird der Blick auf die Gesamtheit des Handlungsgewebes dabei gewahrt und werden die zitierten Textpassagen mit ebensolchem literarischen Charme wie mit Sachkenntnis gewählt, so bleibt dieses per se nicht mehr unbedingt innovative Mittel jedoch ein großartiges Werkzeug, sowohl atmosphärische Dichte zu schaffen als auch gleichzeitig den Intellekt der Leserschaft anzuregen. Dies gelingt Sylvie Schenk zweifellos. Ihre Selektion ist stets treffend und rangiert von hoher Literatur und psychotherapeutischer Fachlektüre über profane Kochrezepte bis hin zu aktuell gängigen Internetlexika. Vergangenheit und Gegenwart reichen sich die Hand, schrauben sich in der Ewigkeitssymbolik der Spirale empor wie das Gänsespiel im Spiegel der Doppelhelix des Lebens. Der Kreis schließt sich.
Noch einmal sei betont: Bodin lacht ist kein simpler, Kaminfeuer-tauglicher Kriminalroman, dessen wohliges Gruseln an langen Herbstabenden in heißem Früchtetee ertränkt werden kann. Es ist aber auch keiner, in dem die Musik im Mittelpunkt steht. Vielmehr sind es, wie schon eingangs erwähnt, die allzu alltäglichen Abgründe der menschlichen Psyche, die den Dreh- und Angelpunkt bilden. Vielleicht kann man Sylvie Schenks neuestes Werk auch als einen Roman der Beziehungsbefindlichkeiten bezeichnen. In jedem Fall aber handelt es sich dabei um ein Paradebeispiel niveauvoller Unterhaltungsliteratur – sprachlich hochwertig, unaufdringlich modern -, die wie nebenbei zu mehr Verständnis und Toleranz einlädt, ohne je ins Moralisierende abzugleiten.
Michaela Krucsay
Leoben, 16.09.2013