Rosteck, Jens: Édith Piaf. Hymne an das Leben ‑ Berlin: Propyläen, 2013. ‑ 463 S.: Abb.
ISBN 978-3-549-07419-0 : € 22,99 (geb.)
Am 10. Oktober dieses Jahres ist es 50 Jahre her: Edith Gassion, genannt der Spatz (le piaf) starb, nicht in ihrer Stadt Paris, in der sie 1915 geboren worden war, sondern an der Cȏte d’Azur, musste heimlich über Nacht nach Paris gebracht werden, wo ihr Hausarzt am folgenden Tag ihren Tod bestätigen und ihn auf den Ort Paris festlegen konnte. Ihr letzter Ehemann glaubte ihr diesen kleinen Betrug schuldig zu sein, und ihr hätte das gefallen. Sie fand an vielem Gefallen, was brave Bürger aller Länder verabscheuen. Das Milieu, in dem sie aufwuchs, war brutal und lasterhaft, extrem und leidenschaftlich, hart, unfair und herzlich. Sie war extrem liebebedürftig, Liebe fordernd und wegwerfend, mannstoll und männerverachtend. Dass sie singen konnte, rettete ihr das Leben, sie sang Hymnen an die Liebe und das Laster, Chansons über die Liebe zum Laster und das Leiden an ihm. Ihre Stimme war von plebejischer Härte und Zärtlichkeit. Fast jeder hat sie im Ohr, fast jeder kennt irgendeine krumme Geschichte aus ihrem Leben. Jens Rosteck kennt sie allesamt, und er kennt ihr ganzes Leben aus einer neuen Sicht, studierte die alten und viele neue Dokumente (bisher unveröffentlichte Briefe) und kann Liebenswertes von Bösartigem, Erfundenes von Echtem unterscheiden. Er erzählt das Leben des Spatzen von Paris aus einer innerfranzösischen Sicht für ein deutsches Lesepublikum, dem manches an der Piaf nahegeht aber fernliegt.
Und er erzählt ihr Leben nicht wegen biografischer oder soziokultureller Pointen, sondern wegen Piafs Gesang, um ihrer Unterwelt-Stimme, ihrer Großstadt-Musik, um ihrer Gossen-Lieder willen, die mit einer unverwechselbaren Einmaligkeit, hundert Jahre nach Baudelaire als musikalische Blumen des Bösen ihre narkotisierende Wirkung entfalten. Und darum hat Rosteck, was uns besonders freut und interessiert, 14 Liedporträts verfasst, und sie als Intermezzi, seltsamerweise nicht in der Chronologie ihres Entstehens, sondern querstehend zu ihrer Umgebung, zwischen die zehn Kapitel seiner Piaf-Biografie geschoben.
Sie versuchen, den Ausnahmezustand, in den jedes Lied der Piaf einen versetzt, zu ergründen, die Magie der Worte und die Sogwirkung der Töne zu dechiffrieren. Rostek paraphrasiert nicht nur in einer poetischen Quadratur die Texte der Chansons, sondern beschreibt auch ihre Stimmungswerte, interpretiert und kommentiert sie. Auch wenn es manchmal nur seine subjektiven Assoziationen sind, die den Projektionsraum der Musik ausmalen. Er dichtet der Musik nichts an, beschreibt manchmal sogar musikalische Satztechniken, um die Machart zu erklären, durch die das Fluidum der Klänge ausgelöst wird ‑ nie sentimental, nie nur sachlich, immer dem Lied ins Herz treffend. Er kennt die Namen der gesamten Piaf-Entourage und die Geschichten, die sich um alle ihre Textdichter, Komponisten und Arrangeure (seien sie nun männlich oder weiblich) ranken. Seine Biografie ist geeignet, diese Chansonnière, die einmal mit dem, was Paris war, identisch war, erneut in Deutschland einzubürgern, für eine neue Generation, die etwas distanzierter sein mag als die der surrealistisch-existentialistischen Jahrzehnte, aber noch empfänglich genug für diese Art von schwarzem Realismus.
Peter Sühring
Berlin, 22.08.2013