Heise, Jutta: Die Geigenvirtuosin Wilma Neruda (1838-1911). Biographie und Repertoire. Mit einem Anhang: Edition des Reisetagebuches der Tournee nach Südafrika (1895) - Hildesheim [u.a.]: Olms, 2013. – 407 S.: 75 s/w- und 4 fbg. Abb. (Studien und Materialien zur Musikwissenschaft ; 70)
ISBN 978-3-487-14871-7 : € 68,00 (geb.)
Es war, mit all seinen Licht- und Schattenseiten für die Musikgeschichte, das Jahrhundert der Virtuosen, in das Wilma Neruda, am 21. März 1838 als das rückblickend wohl herausstechendste Talent einer Musikerfamilie in Brünn hineingeboren wurde. Zum Wunderkind herangezogen wie viele andere zuvor und danach, zählte Neruda, die sich nach ihren Eheschließungen auch Norman-Neruda und Lady Hallé nannte, zu den wenigen KünstlerInnen, denen es gelang, auch im Erwachsenenalter an den mit Ablaufdatum versehenen Ruhm eines „Kinderstars“ nicht nur anzuknüpfen, sondern sogar noch größere Triumphe zu feiern. Auch heute noch wird in einschlägigen Kreisen ihr Name in einem Atemzug mit den größten ViolinistInnen genannt, und tatsächlich galt sie als weibliches Äquivalent zu Joseph Joachim, mit dem sie vor allem bei den „Monday Popular Concerts“ in London auch regelmäßig konzertierte. Joachim war jedoch nicht ihr einziger prominenter musikalischer Partner, deren Liste sich wie ein „Who is who“ der ihr zeitgenössischen Musikwelt liest, wie etwa Jenny Lind, Hans von Bülow und Clara Schumann.
Wilma Nerudas Karriere ist eine, die von Internationalität geprägt war. Die Virtuosin, die sich auch kammermusikalisch auf höchstem Niveau betätigte, bereiste auf ihren Tourneen nicht nur die wichtigsten musikalischen Zentren Europas, sondern auch die USA, Australien und Südafrika, wobei Stockholm und London über lange Perioden hinweg zum Lebensmittelpunkt Nerudas wurden. Eine Konzertkritik der schwedischen Wochenzeitung Illustrerad Tidning vom 22. März 1862 zeugt von der Euphorie, welche Wilma Neruda hervorrief: „Ein junges Frauenzimmer, das Geige spielt, und eine solche Geige! Erst 23 Jahre und solche Töne! Da wird ein Talent von zwölf Männern gebraucht, um ein solches Phänomen aufzuwiegen, zumindest in den Augen derjenigen, die die Gleichwertigkeit der Frau mit dem Mann anzweifeln.“ (S. 77f)
Eingedenk dieser biographischen Fakten und der Art und Weise, wie Wilma Neruda zu Lebzeiten nahezu weltweit als Künstlerin wirkte und wahrgenommen wurde, auch eingedenk der Tatsache, dass die Künstlerin neben ihrer Konzerttätigkeit auch als Pädagogin für Violine am Konservatorium in Stockholm und am Sternschen Konservatorium in Berlin ihre Kenntnisse weitergab, erstaunt es umso mehr, dass es bislang keine umfassende Einzeldarstellung zu Wilma Nerudas Leben und Wirken gab. Erst Jutta Heise widmete sich im Zuge ihrer nunmehr veröffentlichten Dissertation dieser ebenso überfälligen wie verdienstvollen Aufgabe. Optisch ansprechend mit vielfältigem Bildmaterial zu Wilma Neruda aufbereitet, präsentiert Heise „die berühmteste Geigerin des 19. Jahrhunderts“ (S. 1) erstmals in Gestalt einer sorgfältig recherchierten Monographie der interessierten Öffentlichkeit. Heise scheute nicht vor der mühevollen Durchsicht einer Fülle internationaler Zeitungen und Zeitschriften zurück. Sicherlich kam der Autorin dabei die zu ihrer Zeit große Prominenz Wilma Nerudas zugute; dennoch gilt es, die Fülle der für diese Publikation herangezogenen Materialien und Archivalien zu betonen. Im Anschluss an die eigentliche Biographie widmet Heise ein umfassendes Kapitel Wilma Nerudas „Leben und Karriere unter Genderperspektive“, danach folgt ein übersichtlich gegliederter Abschnitt zu ihrem Repertoire. Im Anhang finden sich nicht nur die für jede wissenschaftliche Arbeit obligatorischen Verzeichnisse, sondern auch die im Untertitel angekündigte, kulturhistorisch hochinteressante Edition des Reisetagebuchs der Südafrikatournee 1895 – eingeleitet und erläutert von Jutta Heise unter dem klingenden Titel „Tausend Zulus tanzen zu Ehren der Virtuosin“ (S. 315).
Insgesamt handelt es bei Jutta Heises, wie bereits erwähnt, hoch verdienstvoller Biographie Wilma Nerudas um eine sehr informative und zweifellos lesenswerte Publikation, aus der insbesondere Musikwissenschaftler Gewinn ziehen werden, die aber durchaus auch für all jene am Musikleben des 19. Jahrhunderts interessierten Laien empfehlenswert ist, welche die wissenschaftliche Grundstruktur des Buches nicht scheuen. Mag auch nicht jede der von Heise im Detail gezogenen Schlussfolgerungen auf ungeteilte Zustimmung stoßen, manchmal sogar eher strittig erscheinen, und ist auch eine gewisse Inkonsequenz der Autorin in der Tempuswahl erkennbar, so schmälert dies doch kaum das sehr einnehmende Gesamtbild dieser Publikation, die eines der großen genderbezogenen Desiderata der Musikgeschichte aufgegriffen hat.
Michaela Krucsay
Leoben, 18.05.2013