Mutschelknauss, Eduard: Bach-Interpretationen – Nationalsozialismus. Perspektivenwandel in der Rezeption Johann Sebastian Bachs. – Frankfurt am Main [u.a.]: Peter Lang, 2011. – IX, 540 S.
ISBN 978-3-631-62193-6 : € 84,80 (geb.; auch als e-book erhältl.)
Nach der Lektüre dieses ebenso umfangreichen wie lesenswerten Buches fragt man sich, ob man überhaupt irgendeine Musikerbiographie lesen sollte. Zu deprimierend ist, was der Musikwissenschaftler Eduard Mutschelknauss an Charakterisierungen zur Person Bachs seit Johann Nikolaus Forkel über Philipp Spitta und Alfred Heuß bis zu Arnold Schering, Hans Joachim Moser und Joseph Müller-Blattau zusammengetragen und in Relation zueinander gesetzt hat. Die Quintessenz ist das Gerede vom deutschen, nordisch-gotischen Bach, vom deutschen Meister des Hochbarocks. Nicht nur ganz linientreu agierende Vielschreiber wie Karl Hasse und Otto Schumann, auch die als seriös geltenden Wissenschaftler wie Wilibald Gurlitt, Georg Schünemann und Walter Wiora bedienten sich einer floskelhaften Sprache des Deutsch-Nationalen: Kaum einer unter ihnen, der sich ihr verweigerte. Man gewinnt den Eindruck, es habe innerhalb der gleichgeschalteten Wissenschaftspublizistik der Nazi-Zeit keine anderen Stimmen gegeben. (Offen bleibt allerdings die Frage, ob und inwieweit die Redakteure die Texte um völkische Vokabeln ergänzt hatten.) Angesichts der Masse an diesen pseudowissenschaftlichen Texten, die geballt in den 1930er Jahren auftreten und nicht nur offene Ideologie transportieren, sondern mit rassistischem Ressentiment auch Sachverhalte wie die Bach-Wiederentdeckung der 1820er Jahre so umschreiben, dass aus verleumderischen Vermutungen Fakten werden, wird die extreme Hinwendung einiger Forscher in den 1950er und 1960er Jahren zum trockenen Positivismus nur allzu verständlich. Und man schämt sich, der Zunft der Musikschriftsteller anzugehören.
Ein gleichermaßen faszinierendes wie niederschmetterndes Buch also. Von ihm ausgehend wäre der Blick über den Tellerrand der Bachrezeption hinaus interessant, sowohl, was die literarische Rezeption anderer deutscher Komponisten während der Nazi-Zeit betrifft, als auch, wie in anderen Ländern im entsprechenden Zeitraum über Bach geschrieben wurde. Erst solche weiteren Studien könnten zeigen, ob es sich bei der hier in extenso dargestellten Bachrezeption um ein besonderes, an diesem Komponisten gebundenes Phänomen handelt, oder ob der Komponist letztlich austauschbar war und alles, was als nordisch-deutsch galt, mit ähnlichen Vokabeln gepriesen wurde. Was das Buch nicht leisten kann, was aber sehr aussagekräftig wäre, ist eine systematische Inhaltsanalyse, wie wir sie von den Sozialwissenschaften kennen: Mich hätte eine Statistik interessiert, wie häufig in den Texten zu Bach das Adjektiv „deutsch“ erscheint. Solche statistischen Angaben sind manchmal aussagekräftiger als langatmige Paraphrasierungen und Zitate. Obendrein macht es Mutschelknauss seinen Lesern nicht ganz einfach: Knapp 900 Literaturquellen belegen, dass er so gut wie jeden Artikel zu Bach ausgewertet hat, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschrieben wurde. Angesichts dieser Fülle, für die 1.300 Fußnoten ein äußeres Zeichen abgeben, ist es ihm schwergefallen, pragmatisch zu gewichten. So ist die Untersuchung nicht lesefreundlich strukturiert; einige Autoren (z.B. Otto Schumann) hätten durchaus pauschaler disqualifiziert werden können, statt mit ihren abstrakten Worthülsen immer wieder zitiert zu werden. Und schließlich darf auch bei einer Dissertation wie dieser Kritik an der Sprache geäußert werden: Ellenlange Sätze sind keine Ausnahme (auf Seite 101 enthalten elf Zeilen einen einzigen Satz), und der substantivische Stil feiert fröhliche Urständ. Trotz aller Kritik: Ein wichtiges Buch – und ein abschließender Gedanke: Hätte es den Nationalsozialismus des „Dritten Reichs“ nicht gegeben, wären trotzdem die rassistischen und national-übersteigerten Charakterisierungen von und Urteile zu Bach in der publizistischen Welt und würden vielleicht noch stärker weiterleben, als sie es trotz aller offizieller Kehrtwende subkutan immer noch tun. Der Nationalsozialismus steht ja nur als ein Beispiel der Ideologisierung des Musikalischen. Die deutsch-nationale Komponente spielt dabei freilich keine Rolle mehr; an ihre Stelle treten andere gerade modische Kategorien. War es laut Mutschelknauss bis Mitte des 20. Jahrhunderts der „deutsche Bach“, der in all seinen möglichen und unmöglichen Facetten gepriesen wurde, so sind es heute (noch) die „europäischen“ Musiker: Bach, Mozart, Wagner als Europäer. Erst spätere Generationen werden über diese, unsere gegenwärtig politisch korrekte Sichtweise mit aller relativierenden Distanz urteilen können, und es bleibt zu hoffen, dass deren Urteil nicht ähnlich ausfallen wird wie unseres heute über all jene vor 1933, deren Ideengeschwafel von den Autoren der Nazizeit noch rassistisch-chauvinistisch überboten wurde. Wie sehr immer noch das Bild von der musterhaften deutschen Musikerfamilie Bach in uns steckt, mag die verbreitete Vorstellung von der ach so reinen und überbordenden Musikalität dieser Familie lehren, weswegen so viele dieser Dynastie als Musiker in Amt und Würden standen. Hatten wir es bei der Bach-Familie nicht vielleicht auch mit korrupter Postenschieberei zu tun? Statt faktischer Darlegung beherrschten vor allem Ästhetisierung und Idealisierung der künstlerischen Arbeit schlechthin das deutsch-nationale Schrifttum, finden sich aber auch darüber hinaus bis heute in der Musikwissenschaft. Man braucht nur die vielen Einführungen in die Werke gegenwärtiger Komponisten zu lesen.
Martin Elste
Berlin, 17.01.2013