Konstruktivität von Musikgeschichtsschreibung. Zur Formation musikbezogenen Wissens / Hrsg. von S. Danielczyk u.a. [Peter Sühring]

    Konstruktivität von Musikgeschichtsschreibung. Zur Formation musikbezogenen Wissens / Hrsg. von S. Danielczyk, C. Dennerlein, S. Freydank, I. Knoth, M. Maschat, L. Mittner, K. Seefeldt, L. Suhrcke – Hildesheim: Olms, 2012. – 266 S.: Abb. (Studien und Materialien zur Musikwissenschaft ; 69)
    ISBN 978-3-478-14817-5 : € 39,80 (kt.)

    Acht Stipendiat(inn)en des Landes Niedersachsen waren im Rahmen eines Promotionsprogramms mit dem Titel Erinnerung – Wahrnehmung – Bedeutung. Musikwissenschaft als Geisteswissenschaft versammelt und organisierten vom 03.–05.11.2011 zu dessen Abschluss eine Tagung, die mit Thema und Titel des vorliegenden Buches identisch war. Die hier dokumentierten Ergebnisse wären dazu angetan, in der musikwissenschaftlichen Zunft für positive Unruhe zu sorgen, werden doch bisher kaum hinterfragte stillschweigende Prinzipien der bisherigen Musikgeschichtsschreibung (entweder als einer Geschichte fortwährenden Fortschritts oder als einer von universalen Werten klassischer, in Europa entwickelter Modelle) radikal in Zweifel gezogen, wird aufgedeckt, welche Interessen solche Konstruktionen leiten und wie weit entfernt oder haarscharf neben der Wirklichkeit sie liegen. Schon der sperrige Titel des Buches signalisiert, dass auch hier manchmal nur ein moderner oder postmoderner Wissenschaftsjargon gesprochen wird, denn „Konstruktivität“ ist hier nicht immer kritisch gemeint. Der Jargon zeigt sich beispielsweise auch darin, dass mitunter neumodisch von „Dekonstruktion“ gesprochen wird, wo einfach nur die gute alte Destruktion gemeint ist. Mancher der eingeladenen Autoren – von denen der älteste 1953 geboren wurde – scheint zu meinen, dass Konstruktionen in der Geschichtsschreibung entweder unvermeidliche Übel oder unumgehbare Techniken oder kreative Chancen zur Wahrheitsfindung sind. Das Übertragen gegenwärtiger Interessen auf historische Verhältnisse wird nicht etwa durchgängig abgelehnt, sondern als Beweggrund des Erinnerns und Forschens, als „kommunikative Bedeutungszuschreibung“ wohlwollend anerkannt. Zusammen mit den für die hier beschriebenen und kritisierten früheren Missverhältnisse Verantwortlichen teilen zumindest die Herausgeber(innen) den Standpunkt, dass musikhistorisches Wissen „stets als Produkt einer bestimmten Gegenwart“ erscheine und in „konstruktiv hervorgebrachten Erinnerungen an Vergangenheit“ (S. 7) bestünde, als wäre das eine forschungslogische Konstante.
    Über so viel Affirmation einer fragwürdigen Wissenschaftspraxis ist man zunächst etwas verblüfft. Erst die Lektüre einzelner Vorträge, in denen auf die in solchen Konstruktionen enthaltenen Fiktionen, Mythenbildungen, Legitimierungsbedürfnisse und Behauptungen hingewiesen wird, befreit aus diesem Zirkel. Sonst müsste man ja feststellen, dass kein musikalisches Kunstwerk sich aus dem Gitter der „Diskurse“, die um es herum gesponnen wurden und werden (und es einseitig festlegen), herauslösen ließe. Dass mannigfache gesellschaftliche Kontexte, darunter auch ideen- und kulturgeschichtlich fixierbare Debatten in musikalische Werke eingegangen sind, ist nicht zu leugnen, müsste aber erst am kompositorischen Detail dechiffriert werden.
    Nun zu einzelnen Beiträgen: Hartmut Möller bietet eine aufrichtige Selbstreflexion über eigene frühere Konstruktionen, die er sich erlaubte, um eine bestimmte musikhistorische Situation in den Würgegriff einer eindimensionalen Auslegung zu bringen. Es geht um das Quartorganum im weit gefächerten Umfeld der musica enchiriadis. Heute, mit dem Blick einer 3D-Brille, sieht dieselbe Überlieferung schon viel mannigfaltiger aus und erweisen sich deren mögliche Interpretationen als entsprechend vielfältiger. Möller gibt ein stichhaltiges Plädoyer für das historisch gerechtfertigte Geltenlassen mehrerer nebeneinander bestehender, sich überschneidender Kontinuitäten, die nur unter bestimmten Umständen zu Brüchen und qualitativen Sprüngen führen können, aber nicht müssen. Wäre es da nicht konsequenter, statt von einer 3D-Perspektive (die er einem Schema von Michael Giesecke zur Geschichte der Buchkultur entnommen hat) von einer in D hoch n (in unendlichen Dimensionen) zu sprechen?
    Andreas Domann versucht an der Musikgeschichtsschreibung, die in der DDR getrieben wurde, sofern sie zwar ihrem Selbstverständnis nach „marxistisch“ orientiert aber nicht parteipolitisch abhängig war, zu retten, was zu retten ist, referiert aber kaum mehr als die alte Kontroverse Knepler/Dahlhaus und bringt deren Resultate in eine etwas wenig überzeugende Beziehung zur US-amerikanischen Strömung der „New Musicology“. Da zwischen Marx (der keine ästhetische Theorie verfasst hat und auch nicht hätte, selbst wenn ihm dazu Zeit geblieben wäre) und dem Marxismus als Ideologie nicht unterschieden wird, kann das evtl. fruchtbare Potenzial bestimmter Äußerungen von Marx zur gesellschaftlichen Konstruktion von Kunst als einem Überbauphänomen kaum auch nur erahnt werden, und der Beitrag erschöpft sich in einem diskursanalytischen Beziehungsgerangel. Sicherlich könnte man Resignation in Brahms’ Sinfonien als ein Signal der Enttäuschung über die Folgen der Reichsgründung von 1871 ausfindig machen, aber anhand welcher musikalisch-poetologischer Befunde? Hier ginge es um Stellen und Taktzahlen und nicht um beschworene Stimmungen. Wenn Resignation beim Hören spürbar ist, kommt die spannende Frage, wie Brahms das kompositionstechnisch bewerkstelligt hat – erst deren Beantwortung wäre eine material- und stoffbezogene Analyse, die auch Knepler schuldig geblieben ist, also: wenig brauchbare Relikte einer Vergangenheit marxistischer Musikhistoriografie. Die am Ende der DDR von Gerd Rienäcker aufgeworfene Frage: Haben wir eine marxistische Musikästhetik? wäre also umzuwandeln in: Brauchen wir überhaupt eine marxistische Musikästhetik, wenn sie – um mit Kolakowski zu sprechen – doch nur entweder banal oder borniert sein kann?
    Den Paukenschlag zum Schluss des Buches führt Frank Hentschel, indem er die neuerdings Module genannten Studieneinheiten des Fachs Musikwissenschaft an deutschsprachigen Universitäten unter eine kritische, etwas überscharfe Lupe nimmt. Er glaubt, das europäische Musikkind mit dem abendländischen Bade, in dem es illegitimerweise schwimmt, ausschütten zu müssen und leugnet jeglichen inneren und chronologischen Zusammenhang in der Kulturgeschichte eines von der Antike bis in die Jetztzeit reichenden Europas. Auch wenn man dieses Europa nicht im Zentrum der Erde oder da, wo die Sonne untergeht und alle wertvollen Güter der Menschheit bescheint, sondern als Wurmfortsatz Asiens an deren Peripherie ansiedeln wollte, wäre doch ein entwicklungsgeschichtlicher Zusammenhang von den griechischen Genera über die mittelalterlichen Modi, die Dur-Moll-Tonalität bis zur atonalen Kompositionsweise kaum zu leugnen. Und: dass man bspw. den phrygischen Nomos noch heute in Arabien hört, zeigt die musikkulturelle Verbindung des alten Griechenland zu weiter östlichen Regionen. Dass Hentschel meint, einen angeblich nicht existierenden Zusammenhang damit begründen zu können, dass schon Beethoven den einstimmigen Gesang nicht mehr gekannt habe, ist wohl grotesk zu nennen und darüber hinaus leicht zu widerlegen. Dass Hentschel sich selbst auf Aristoteles beruft, um den Menschen als Zoon politikon zu charakterisieren, der Musik nur aus seinen gesellschaftlich begründeten Ambitionen heraus betreibt, zeigt die ideengeschichtliche Kette, in der Hentschel sich selbst gerne befinden möchte, und in die zu stellen anderen musikhistorischen Erörterungen durchaus gestattet sein sollte. Dass die an solche übergreifenden Geschichtskonstruktionen geknüpften Absolutheits-, Fortschritts- und Wahrheitsansprüche zu verwerfen sind, ist allerdings mehr als richtig, und in deren Kritik liegt wiederum die wirkliche Stärke dieses Vortrags.
    Weitere Themen sind: die Konstruktion musikhistorischen Wissens in der musikalischen Analyse (Tobias Janz), die Funktion musikhistorischer Meistererzählungen für musikalische Analysen (Signe Rotter-Broman), Varianten und Konstanten des Händel-Bildes (Juliane Riepe) und Barockdarstellungen der 1930er und 1940er Jahre (Philine Lautenschläger). Alles geeignete Beispiele, um die unvermindert grassierenden Konstruktionen in der Musikgeschichtsschreibung bloßzustellen.

    Peter Sühring
    Berlin, 21.11.2012

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