Redner, Gregg: Deleuze and Film Music. Building a Methodological Bridge between Film Theory and Music. – Bristol [u.a.]: Intellect, 2011. – 194 S.: s/w-Abb., Filmographie
ISBN 978-1-84150-370-7 : £ 19,95 (kart.)
Die Mehrzahl der Bücher über Filmmusik lassen erkennen, welche Anstrengungen es kostet, Film und Musik dergestalt miteinander in Beziehung zu bringen, dass die Ergebnisse über die bloße Beschreibung des parallelen Ablaufs zweier Sinnstiftungssysteme und ihrer partiellen oder ubiquitären Koinzidenz hinausreichen. So verwundert es auch nicht, dass die überwiegende Anzahl der wissenschaftlichen Studien zur Filmmusik mit einem geradezu eklatanten Mangel an Reflexion über ihre analytischen Herangehensweise und Methodik zu kämpfen haben.
Der kanadische Film- und Musikwissenschaftler Gregg Redner versucht sich nun an einer ersten anspruchsvollen Lösung dieses Problems. Ausgehend von der Beobachtung, dass die meisten Arbeiten zur Filmmusik entweder die musikalische Schicht ohne Berücksichtigung der filmischen Ebene in den Blick nehmen (was meist zu trivialen Resultaten führt) oder aber sie nur als Begleitung des filmischen Geschehens berücksichtigen (was nur der Konzertführerprosa Konkurrenz macht), schlägt er die Begrifflichkeit des 1995 verstorbenen französischen Semiotikers und Philosophen Gilles Deleuze, die dieser in seinen einflussreichen Schriften zum Kino (auf deutsch: Das Bewegungs-Bild. Kino I und Das Zeit-Bild. Kino II) entworfen hatte, als Ausgangspunkt für eine Analyse der Interaktion von Bild und Musik vor. Die von Redner herangezogenen Kategorien sind dabei jeweils Schlüsselbegriffe, mit denen Deleuze das Wesen des Filmischen zu erfassen sucht.
Im Anschluss an eine kurze Reflexion seiner methodischen Absicht exemplifiziert Redner die Möglichkeiten dieser Herangehensweisen. So entfaltet er etwa die von Deleuze auf den Film bezogenen Kategorie der ,sensation‘, der Wahrnehmung, an Maurice Jauberts Komposition für Jean Vigos Film L’Atalante (1934), um die Hürde der vermeintlich simplen musikalischen Faktur und ihres zumeist diegetischen Vorkommens für die Analyse zu umgehen. Deleuzes Begriff der ,sensation‘ dient Redner dazu, die banale musikalische Information von der üblichen Zuordnung zum affektiven Horizont des Filmbetrachters zu entbinden; sie kann dadurch im filmischen Kontinuum jeweils unterschiedliche Funktionen erfüllen und dadurch in ihrer Polyvalenz erfasst werden. Das Nebeneinander von Tonalität und Atonalität in Leonards Rosenmans Musik für Elia Kazans East of Eden (1955) schlüsselt Redner mit der Hilfe des Konzepts des ,Nomadischen‘ auf, das gegenüber dem geläufigen Gut-Böse-Dualismus auch in musikalischer Hinsicht weitaus stärker die diesem zugrundeliegende Funktion eines integralen Weltbildes mit schweifenden, fluktuierenden Anteilen auf der musikalischen Ebene anstelle eines strikten Gegensatzes akzentuiert. Andere Analysen deuten musikalische Strukturen, wie die Sonatenform in Dmitrij Schostakowitschs Musik zu Grigori Kozintsevs Hamlet (1964), vor dem Hintergrund der auf Nietzsche zurückgehenden Idee der ewigen Wiederkehr, oder Zbigniew Preisners Komposition für Krzysztof Kieslowskis Drei Farben: Blau (1993) im Sinne einer selbständigen Filmfigur, die dem Deleuzschen Konzept des Werdens als filmischer Idee verpflichtet ist.
Auch wenn der Leser nicht allen Verästelungen von Redners Argumentation unkritisch folgen sollte, bietet das Buch nicht nur einen guten Anlass, sich mit mit Deleuzes Schriften zum Film zu befassen, sondern auch die bislang allzu seltene Möglichkeit, über neue Wege der Analyse von Filmmusik nachzudenken und musikalische Strukturen abseits von formalen Kategorien einerseits und der bloßen Illustration narrativer Inhalte andererseits in den Blick zu nehmen.
Markus Bandur
Berlin, 15.10.2012