Wagner, Guy: Korngold. Musik ist Musik. – Berlin: Matthes & Seitz, 2008. – 536 S.: zahlr. Abb.
ISBN 978-3-88221-897-8: € 39,90 (geb.)
Kompositionen von Erich Wolfgang Korngold (1897‑1957) haben im postmodernen Musikbetrieb an Terrain zurück- und neu gewonnen. Gleichwohl krankt die ästhetische Reputation des Österreichers vielfach noch heute an den Folgeschäden unreflektierter Klischees: den Verdikten des zum Gebrauchsmusiker verkümmerten Jahrhundertgenies oder des von der Moderne ins Abseits manövrierten Schwärmers und Spätromantikers. Hatte 1997 Brendan G. Carroll mit einer (derzeit in Deutsch erscheinenden) Korngold-Biographie für klärende Innovation gesorgt, so stellte ihm nun Guy Wagner mit einem deutschsprachigen Pendant, dem ersten seit 1922, ein nicht weniger bahnbrechendes, fortan unerlässliches Standardwerk zur Seite. Wie in seiner Spezialstudie Bruder Mozart. Freimaurerei im Wien des 18. Jahrhunderts [vgl. Rez. in FM 27 (2006), S. 170f.] bewährt sich Wagner auch hier einmal mehr als tief schürfender Rechercheur mit sensiblem Gespür für Innenschau und Beziehungsumfelder eines musikgeschichtlichen Einzelphänomens.
Korngolds Vita, Werkbetrachtungen und soziokulturelle Faktoren verknüpft Wagner zu einem erzählerisch dynamischen, vielfältige Aspekte integral austarierenden Panorama, dem neben reichem Informationsgehalt auch die belletristische Qualität empathisch-personal referierter Memoiren zu attestieren ist. Breit gestreut ist zunächst Wagners stets akkurat belegter Quellenfundus: die Lebenserinnerungen von Korngolds Frau Luzi, treffend zitierte Forschungsbeiträge, Presse, edierte und neu eruierte Korrespondenz, Anekdoten, behördliche Dokumente. Was den Leser an kulturpsychologisch Brisantem und Entdeckenswertem erwartet, offenbart ein dramaturgischer Kunstgriff: das Konterkarieren der Chronologie durch eine thematisch akzentuierte Kapitelanlage von „Der Vater“ über „Der Erfolgsverwöhnte“ oder „Der Emigrant“ bis „Der Vereinsamte“ und „Die Renaissance“. Unter den konstitutiven Zügen durchleuchtet Wagner besonders eindringlich das übermächtige, konfliktgespannte Verhältnis zu Vater Julius, der, berüchtigt-konservativer Kritiker der Wiener „Neuen Freien Presse“, seinen begnadeten Sprössling ebenso förderte wie drakonisch forderte. Ähnlich ambitioniert fällt der Blick auf Korngolds frühreife Meisterstücke, allen voran Die tote Stadt, seine Operettenadaptionen, die Schicksale NS-verfolgter Verwandter, das Emigrantendasein des Juden und die Zusammenarbeit mit Max Reinhardt in Amerika, die deprimierende Rückkehr des nahezu Vergessenen nach Wien, sein stetiges Bekenntnis zur Tonalität, seine stilbildenden Filmmusiken für Hollywood.
Qualitative Abstriche zu vermerken sind bei einigen teils recht al fresco operierenden Werkanalysen, auch lassen umgangssprachlich-slanghafte Eskapaden sowie eine vermeidbare Fehlerquote den letzten editorischen Feinschliff vermissen. Hoch instruktiv dagegen: Werkverzeichnis und Bibliographie.
Andreas Vollberg
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 29 (2008), S. 359