Fürst, Marion: Maria Theresia Paradis. Mozarts berühmte Zeitgenossin. – Köln [u.a.]: Böhlau, 2005. – XII, 405 S.: Ill., Notenbeisp. (Europäische Komponistinnen ; 5)
ISBN 3-412-19505-7 : € 24,90 (geb.)
Das Mozartjahr boomt, und da kann es auch einer heute eher unbekannten Komponistin passieren, dass eine Monographie zu ihrem Leben und Werk mit dem Titelzusatz „berühmte Zeitgenossin“ versehen wird – ein Verkaufsgag?
Maria Theresia Paradis (1759-1824), „bereits zu Lebzeiten [...] eine berühmte Pianistin, Komponistin und Sängerin“ (so der Klappentext), gehört zu den wiederzuentdeckenden Frauengestalten der Musikgeschichte. Wieso dann eigentlich „bereits“? Wie bei vielen Musikerinnen ist ihre Geschichte erst wieder ins Bewusstsein zu holen, was sich dieser Titel der Buchreihe Europäische Komponistinnen, betreut von Annette Kreutziger-Herr und Melanie Unseld, zur Aufgabe gemacht hat.
Marion Fürst beschreibt in ihrem Buch zunächst ausführlich das Leben: Als Kind erhielt das hochbegabte Mädchen eine umfassende Musikausbildung, erblindete allerdings im Alter von drei Jahren. Mit ihren öffentlichen Auftritten in Wien – die ersten mit dem Nimbus des „Wunderkindes“ – erlangte sie Bekanntheit, unter anderem auch bei Kaiserin Maria Theresia, die ihr ein jährliches Gehalt aussetzte. Eine dreijährige Konzertreise durch zahlreiche Städte Europas machten ihren Ruf als Musikerin auch außerhalb ihrer Heimat bekannt. Diese Reise gehörte sicher zu den Höhepunkten ihrer Biographie und wird im Buch ausführlich und facettenreich dargelegt. Zurück in Wien gründete Paradis 1808 eine der ersten Musikschulen für Musikerinnen, engagierte sich sehr in der Blindenbildung und komponierte verschiedene Werke (Kantaten, Lieder, Klavierkonzerte, Kammermusik und Opern), von denen ein Großteil jedoch wohl verschollen ist. Auch der Analyse einiger erhaltener Werke von Paradis widmet sich die Monographie.
Ist das Anliegen an sich sehr verdienstvoll – Marion Fürst fasst die bis dahin veröffentlichte, umfangreiche Paradis-Forschung, die unter anderem 27 Aufsätze von Hermann Ullrich umschließt, zusammen, beschäftigt sich mit den Kompositionen und veröffentlicht in einem Anhang wichtige Quellen –, so bleibt bei der Lektüre doch ein zwiespältiger Eindruck zurück. Geradezu ärgerlich sind nicht nur die sehr zahlreichen Rechtschreib- und Trennungsfehler (Gioacchino Rossini z. B. schreibt sich tatsächlich mit cc; auf der wegen einer Abbildung nur halb mit Text gefüllten S. 235 kann man nicht nur die „Dominattonart“, sondern auch „Sitzentöne“ und die Trennung „Exc-lamatio“ finden usw.), der nachlässige Umgang mit Lebensdaten (in der Regel bei der ersten Nennung der Person, doch nicht z. B. bei Fürst Kraft Ernst von Oettingen-Wallerstein (S. 83) – im Buch steht fälschlicherweise Öttingen – sowie bei Joseph Anton Steffan (S. 61), bei Johann Rudolph Zumsteeg hingegen sind sie auf S. 255 sowie auf S. 256 angegeben), sondern auch das fehlerhafte Personenregister (Schiller z. B. erscheint im Buch auf S. 87 und nicht auf S. 187, Ignaz von Beecke auch auf S. 84) und das unvollständige Abkürzungsverzeichnis (nicht alle wissen, dass das GLA das Generallandesarchiv in Karlsruhe ist, S. 364). Im Grunde wird wohl die neue Rechtschreibung angewandt, doch finden sich davon auch Ausnahmen (z. B. S. 97, 100).
Schlimmer noch wird es im Quellen- und Literaturverzeichnis: Da wird ein „Taufprotokoll von Sankt Stephan“ angegeben (S. 364), das im Dom- und Metropolitan-Pfarramt Sankt Stephan liegen soll… – wohl in Wien?, fragt man sich. Die Library of Congress in Washington wird zur „Congress Library Washington“ (S. 366) usw., und bei der umfangreichen Liste der Sekundärliteratur hätte ich mir gewünscht, dass sich Autorin und Herausgeberinnen auf eine einheitliche Form der Angaben einigen (muss eine Angabe des Verlagsnamens bei modernen Verlagen wirklich sein? Und warum ist der Verlag dann nicht auch konsequent genannt?). Warum kann ich die bibliographischen Angaben zu „Claudius“, S. 51, und „Treichler“, S. 104, nicht im Literaturverzeichnis finden? Was ist beim Sortieren auf Seite 387f. passiert – Schönfeld, Schott, Schmid, Schmidt…? Eine Diskographie fehlt leider ganz.
Doch nicht nur solche Anmerkungen, die als „formal“ gelten können, müssen hier gemacht werden, sondern es fällt leider auch ein wenig professioneller Umgang mit historischen Begriffen auf. Franz Anton Mesmer, der Mann, der Paradis von ihrer Blindheit zu heilen versuchte, ist 1734 ganz sicher nicht im „Großherzogtum Baden“ geboren (S. 37), sondern in der Markgrafschaft – Baden wurde erst im Jahr 1806 von Napoleons Gnaden zum Großherzogtum. Fehler im Analyseteil wie „ein über drei Takte ausgehaltene[r] Ton c2 der Singstimme“, der tatsächlich aber nur drei Taktzeiten umfasst (S. 244, vgl. die abgebildeten Noten S. 243), lassen das Vertrauen in das Buch nicht steigen. Warum wird so häufig und ausführlich aus moderner Sekundärliteratur wörtlich zitiert (ein ziemlich unwissenschaftliches Verfahren), hat die Verfasserin keine eigenen Worte? Hingegen stützt sie sich leider häufig auf ältere Sekundärliteratur, wenn es um Zitate aus dem Stammbuch Maria Theresia Paradis’ geht (z. B. S. 82), in das sie doch selbst Einblick genommen hat. Dabei hatte sie im Vorwort (S. 3) die Auswertung von „Basisquellen“ als „neue Methode“ angemahnt, um „einer patriarchalisch geprägten Geschichtsschreibung“ entgegenzutreten und „den Anteil der Frauen am musikalischen Leben vergangener Tage aufzuzeigen.“ So neu scheint mir diese Methode jedoch nicht, und gerade nicht in der Frauen- und Genderforschung.
„Ist eine solche Sicht zu pedantisch?“, fragt sich die Verfasserin, u. a. Dozentin für Musikwissenschaft an der Universität Koblenz-Landau und Kirchenmusikerin, auf S. 221 ihres Buches. Dies habe ich mich beim Entdecken der zahlreichen Mängel auch gefragt. Aber noch mehr: Wo bleibt der historische Abstand, der es selbstverständlich gestattet, sich mit dem bearbeiteten Gegenstand „anzufreunden“ (vgl. vor allem „Nachklänge“, S. 287 – 292), aber doch wenigstens im Ansatz Sachlichkeit wahren sollte? Die heute schlicht falschen Schreibweisen, wie Hofrath statt Hofrat (S. 167), auch Paradies, wie die Musikerin in historischen Quellen bisweilen geschrieben wurde (vgl. S. 73) – in Fürsts Text, nicht im Zitat –, sind auch Indiz für die fehlende Distanz zur Materie.
Mit W. A. Mozart hatte Paradis nicht über das übliche Maß seiner Zeitgenossinnen und ‑genossen hinaus zu tun. Dies jedenfalls konnte das Buch belegen. Da ist es schon fraglich, ob es z. B. Sinn macht, den berühmten Zeitgenossen zum Vergleich heranzuziehen, wenn es darum geht, die Frustration von Paradis in Zürich wegen schlecht besuchter Konzertveranstaltungen mit unerfreulichen Erfahrungen des Musikers Mozart auf Reisen zu vergleichen (S. 100). Bei einem Buch mit diesem Anspruch und diesem Preis kann man wirklich mehr Sorgfalt bei der Bearbeitung und Herausgabe erwarten.
Martina Rebmann
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 27 (2006), S. 70ff.