Mieder, Wolfgang: Zersungene Lieder. Moderne Volksliedreminiszenzen in Literatur, Medien und Karikaturen. – Wien: Praesens, 2012. – 409 S.: 142 s/w-Abb. (Kulturelle Motivstudien ; 12)
ISBN 978-3-7069-0685-2 : € 43,80 (kart.)
Ach Herrje, was man mit einem Volkslied nicht so alles anstellen kann! In Zersungene Lieder treffen die Leser auf Lieder, die heute noch angestimmt werden und als Vorlage für Aphorismen, Gedichte, Graffitis, Prosatexte, Sprüche und Headlines in Werbung, Witzen sowie Karikaturen dienen. Hierfür hat der Autor Wolfgang Mieder in seinem über vier Jahrzehnte eigenhändig aufgebauten internationalen Volkskundearchiv nach Belegen und Bildern gestöbert. Der Professor für Germanistik und Volkskunde an der University of Vermont (USA) legte schon vor zwei Jahren den Band Moderne Märchenreminiszenzen vor und entschloss sich dabei, einen Pendantband für Volkslieder folgen zu lassen. Entstanden ist eine üppige Sammlung von 716 „Gelegenheitsfunden“, wie er sie nennt, „die ohne Hilfe des Internets aufzeigen, wie verbreitet Volksliedreminiszenzen seit dem 19. Jahrhundert bis heute sind“ (Vorwort, S. 7). Sage und schreibe 574 Textbelege und 142 Abbildungen in Schwarzweiß verweisen in 48 Kapiteln auf die Bedeutung der Volkslieder, das Singen allgemein und Quodlibets, die aus Collagen von bekannten Lied- oder Refrainzeilen bestehen.
Nach einer kurzen Einleitung knöpft sich Mieder im 2. Kapitel die „Schwundstufen des Volksliedes“ vor. Verschiedenartige Auslegungen – sei es humorvoll oder soziakritisch – zeigen, dass die Volkslied-Tradition keineswegs abgebrochen ist, denn selbst eine innovative Metamorphose setzt voraus, dass die Lieder, wenngleich sich das meistens auf die erste Strophe beschränkt, bei uns überhaupt erst im Gedächtnis verankert sein müssen. Kein Wunder, denn ihre Inhalte sind immer noch zeitgemäß und spiegeln das gesellschaftliche Leben wider: Freude, Sorgen, Arbeit, Liebe, Leid, Tod, Trennung etc. Wie sich moderne Schriftsteller mit Volksliedern und ihrer Thematik auseinander setzen, zeigt das 3. Kapitel. Anhand von Zitaten schlauer Schreiberlinge verdeutlicht Mieder darin Sinn und Zweck des Volksliedes.
Im 4. Kapitel beginnt schließlich die eigentliche Materialsammlung. Anzutreffen sind dort Anzeigen aus Zeitschriften, wie dem Spiegel oder Playboy, der z. B. Alle Jahre wieder verwendet. Weihnachtslieder sind überhaupt der Renner in Sachen Verwertung. Doch auch das beliebte Alle Vögel sind schon da wird gerne verunstaltet, wie im Stern 1974, der es in Alle Vögel sind schon weg umwandelt. In dem Artikel geht es um die fiesen Machenschaften von Jägern, die seltene Vogelarten schießen und sie zum Ausstopfen verkaufen. Für die ein oder andere Parodie muss auch der Mai ist gekommen herhalten, was dann so klingt: „Der Mai ist gekommen, Die Bäume schlagen aus, Ich hab was abbekommen, Und muß ins Krankenhaus“. Beliebt bei jung und alt und bestens geeignet zum Verhunzen ist Freut euch des Lebens. Da wird die „Großmutter mit der Sense rasiert“, doch „Alles vergebens! Sie war nicht eingeschmiert“ (S. 173). Ein bekannter Motorradhersteller macht in einer Werbung von 1976 aus Freut Euch des Lebens einfach Freut euch des Tankens und Hänschen klein wird im Gedicht Kunst der Fuge geschickt verarbeitet. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Doch nicht nur kommerziell, sondern auch in Lyrik und Philosophie wird gut und gerne auf die Weisheiten der Volkslieder zurückgegriffen.
Besonders viele Belege sind zu finden in den Kapiteln zu Heideröslein, Loreley und Es waren zwei Königskinder. Alle Texte und Abbildungen zu gut 40 Volksliedern zeigen, dass sie die Basis zu zahlreichen Nachdichtungen und Anspielungen gebildet haben, wie in Kommt ein Vogel geflogen, O Tannenbaum, Schlaf, Kindlein, schlaf, Stille Nacht, heilige Nacht. Eines wird am Ende deutlich: Die allgemeingültigen Texte und dazu passenden Melodien der alten Volkslieder haben modernen Menschen noch einiges zu sagen.
Rebecca Berg
Frankfurt an Main, 16.06.2012