Ott, Karin und Eugen Ott: Handbuch der Verzierungskunst in der Musik 7: Streichinstrumente. – München: Ricordi, 2010. – 711 S.: 1 Abb., Notenbsp.
ISBN 978-3-931788-07-0 : € 78,00 (CD-ROM)
Manche Bücher lassen einen ziemlich ratlos. So dieses, das als pdf-File auf einer CD-ROM angeboten wird, also streng genommen kein Buch ist, gleichwohl es den abschließenden 7. Band einer Serie von bisher sechs gedruckten Büchern zur Verzierungspraxis darstellt. Ratlosigkeit stellt sich insofern ein, als einerseits ein enormes Repertoire hier vorgestellt wird – also viel Arbeit im Sammeln von potentiellen Quellen steckt –, andererseits so ziemlich alle Kriterien einer philologisch-kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema negiert werden. Aus der Sicht des Musikwissenschaftlers ein Buch von Musikern für Musiker also.
Der erste Band dieses groß angelegten Opus begann klug mit einem Zitat von Norbert Elias über die „menschliche Erkenntnis“ durch das „Wahrnehmen von Zusammenhängen“. Und genau diese Zusammenhänge sind nicht wahrgenommen worden. Das Autorenehepaar – sie Sängerin, er Regisseur – scheitert an der Fülle des Materials und an seiner Vorstellung von Objektivität. Was schmerzlich fehlt, ist eine plausibel dargestellte Gewichtung, ein theoretisches Konstrukt hinter dieser Sammlung. Stattdessen stehen wir vor einer Stück für Stück kommentierten Quellensammlung, die ihre methodische Vorlage in dem frühen Klassiker zur Ornamentik der Musik von Adolf Beyschlag (Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1908) hat.
Das Handbuch ist im Wesentlichen chronologisch aufgebaut; es beginnt mit der Diminutionspraxis der Renaissance und behandelt dann ausgewählte Passagen aus Werken von Komponisten entlang der europäischen Musikgeschichte. Teilweise werden Komponisten aber auch nur erwähnt, so auf den letzten anderthalb Seiten vier Komponisten und fünf Geiger des 20. Jahrhunderts. Dazwischen befinden sich knapp 700 Seiten, die zu einem Großteil mit modern gesetzten Noten, darunter häufig vollständigen Sätzen, gefüllt sind. Warum kurze biographische Anmerkungen im Lexikonstil zu den Komponisten gemacht werden, ist zweifelhaft. Zwei Exkurse gibt es; sie sind mehr als dubios: Zum Vibrato wird lediglich auf einer Seite Eduard Melkus zitiert und abschließend Small Talk gedruckt: „Mit dieser Auswahl sollte dem Wissensdurst des Wissbegierigen Genüge getan sein. Mit dem Studium der Standardwerke und den Anmerkungen der aus der Praxis schöpfenden großen Geiger über das Vibrato kann sich jeder sein eigenes Bild über dieses komplexe Problem machen.“ (S. 205). Ähnlich dürftig ist der Exkurs über die „Stimmung des Orchesters“, bei der es nicht um die Stimmung, sondern um den Stimmton geht. Den Band beschließen eine (handwerklich nicht korrekte) Bibliographie, ein Personenregister (das auch als Werkregister fungiert) und ein Sachregister. Ein wissenschaftliches Buch will diese Sammlung nicht sein. Aber an wen wendet sie sich dann? Ob der Geiger (dessen Repertoire hauptsächlich behandelt wird) mit der Anhäufung von Beispielen zur Verzierungstechnik etwas anfangen kann, möchte ich bezweifeln.
Das Produkt ist außerdem ein Musterbeispiel dafür, wie Verlage durch zweifelhafte Sparmaßnahmen ihre Legitimation verlieren. Das pdf-File kommt auf einer CD-ROM in einem der heute üblichen schäbigen Plastikbehälter, der nur noch eine 8-seitige Ein- bzw. Anleitung enthält, von der der Satz, es sei verboten, auf der CD enthaltene Dateien zu kopieren, in Erinnerung bleibt; ebenso behalte ich die Argumentation für die Veröffentlichung auf CD-ROM im Gedächtnis: „Um die Praktikabilität […] zu erhöhen“ – darauf muss man kommen! Wie praktisch: Will man Etwas aus den zahlreichen Notenbeispielen selbst musizieren, muss man es erst einmal ausdrucken (was einem gnädig erlaubt wird).
Martin Elste
Berlin, 10.02.2012