Lachenmann, Helmut: Musik als existentielle Erfahrung. Schriften 1966–1995. Hrsg. und mit einem Vorwort versehen von Josef Häusler. 2. aktual. Ausg. – Wiesbaden Breitkopf & Härtel, 2004. – 460 S.: graph. Darstellung, Noten. –
ISBN 3-7651-0247-4 : € 52.00 (geb.)
Die vorliegende Textsammlung umfasst neben grundlegenden Aufsätzen zur Musik u.a. verschiedene Interviews sowie sämtliche von Helmut Lachenmann (*1935) verfassten Werkeinführungen. Außerdem wurden zwei Vorträge seines Lehrers Luigi Nono hineingenommen. In dieser Ausgabe liegt somit das umfassende Denken Lachenmanns zum Thema Musik vor dem Leser. Seine zentralen Abhandlungen gehören, so der Herausgeber, zu den grundlegenden Texten unserer Zeit. Sie zeugen von selbständigem Denken über Musik. Davon kann sich der Leser unschwer überzeugen. Der Herausgeber gliedert die Veröffentlichung in vierzehn Abschnitte, und unterteilt die Arbeiten Lachenmanns u.a. in die Themenbereiche „Theoretisch-praktische Grundlagen“, „Musik und Gesellschaft“, „In eigener Sache“, „Über Komponisten“. Das vorliegende Werk ist viel zu kompakt, viel zu speziell und viel zu umfangreich, um an dieser Stelle gebührende Würdigung zu erhalten. So bleibt nur, auf die Neugierde an den vorliegenden Abhandlungen, Statements, Einschätzungen und Beurteilungen des Komponisten zu setzen. In der Einleitung bereits weist Lachenmann auf die veränderten Bedingungen der heutigen Zeit für Komponisten hin, die durch mannigfache Entgrenzungsprozesse sich herausgebildet haben. Die verbale Deklaration des Komponisten sei mittlerweile zur unentbehrlichen Bedingung geworden. Dies sei eine Notwendigkeit für die Verteidigung der eigenen Intentionen und Positionen.
Nicht nur künstlerisch tätig sein, sondern auch über die eigenen Absichten reden, lautet seine Devise. Wie zuvor in der Veröffentlichung über Hans Zender (Die Sinne denken; s. Rez. in FM 2005, S.113 ) hat der Verlag Breitkopf & Härtel auf engstem Raum, mit kleinstmöglicher Schriftgröße und in angestrebter Vollständigkeit dem Interessierten sozusagen den ganzen Lachenmann aufbereitet.
So werden u.a. im Abschnitt über die theoretisch-praktischen Grundlagen dessen Vorstellungen von und über Musik mit vielen Notenbeispielen unterfüttert. Dabei begegnet einem der Texturklang, der Farbklang und der Fluktuationsklang. Diese bilden als Gegenüber zum Kadenzklang eine Familie, und verkörpern statische oder statistische Klangerfahrungen. Sehr speziell werden dann noch der Strukturklang und Stockhausens Zeitgeräusch gegeneinander abgegrenzt. So komplex, dabei klar und nachvollziehbar dargestellt, taucht der Leser in Lachenmanns Gedankenwelt ein.
Im Abschnitt zur Analyse Neuer Musik handelt er u.a. folgenden Gedanken ab. Von Schönberg ausgegangen und durch dessen Schüler fortgesetzt, sei das Prinzip der totalen Durchführung angewandt worden. Damit wollte man die Tonalität endgültig liquidieren. Seiner Ansicht nach sei die serielle Musik mit ihrem revolutionären Anspruch gescheitert. Als Hauptgrund dafür nennt er die Unfähigkeit der Verhinderung von kommunikativem Kontakt. Er nennt dies Querfeldein-Kontakte. Diese beziehen sich ‚auf alle jene Requisiten und expressiven Elemente der tonalen Musikpraxis, an die sich das heimatlos gewordene tonale Denken heute klammert, nachdem ihm seine Heimat, die kadenzorientierte Harmonik, entzogen worden ist.’ (S. 28)
Luigi Nono gehe es keineswegs nur um das Erfinden des Neuen in der Musik. Sein Thema sei auch die Veränderung des Hörens gewesen. Ihm sei es nicht darum gegangen, Strukturen zu ‚machen’, sondern Strukturen ‚freizusetzen’. In diesem Zusammenhang sei auch der Begriff der ‚Wahrnehmung’ wichtig. Gemeint ist dabei ein sich selbst wahrnehmendes Hören.
Die neuen Wege Nonos bergen auch den Sachverhalt des Irrens. Irren hier gemeint im Sinne von verirren, den Weg nicht finden. Gemeint ist aber auch das Irren im Verständnis von Scheitern, weil das Ziel die Vorstellungskraft übersteigt. Einzig in der Kraft des Suchenden zum Weiterirren macht sich Realität und latente Gegenwart des Ziels, als in uns selbst Verborgenes, bemerkbar’ (S. 303) . Als treue Weggefährten melden sich in solchen Fällen Angst, Depression, Infragestellung des eigenen Tuns und Seins aus nicht steuerbaren inneren Gründen und Abgründen heraus (S. 303), die zur Krise werden können. So wundert es nicht, dass sich Nono zum Ende seines Lebens verstärkt mit Mythologie, Religionsphilosophie, mit Nietzsche und Heidegger u.v.a.m. beschäftigt hat.
Bereits diese Ausführungen mögen die Komplexität des vorliegenden Bandes belegen. Dieses Buch kann weder einfach nur benutzt oder gelesen werden. Dieses Buch muss wahrlich studiert werden. Dem Verlag ist zu danken für eine derart kompakte und hervorragend gemachte Buchausgabe.
Selbstverständlich sind Literaturverzeichnis, Werkverzeichnis und Diskographie angefügt. Es handelt sich um eine anspruchsvolle Lektüre. Sie ist ein Muss für alle Kenner und Könner und solche, die es werden möchten.
Bettina von Seyfried
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 26 (2005), S, 252ff.