Handbuch der Systematischen Musikwissenschaft 1: Musikästhetik

Musikästhetik. Hrsg. von Helga de la Motte-Haber. In Verb. mit Eckhard Tramsen. – Laaber: Laaber, 2004. – 458 S.: Ill. (Handbuch der Systematischen Musikwissenschaft ; 1)
ISBN 3-89007-562-2 : € 85,– (geb.); bei Subskr. günstiger

Auf fünf Bände konzipiert ist das von Helga de la Motte-Haber beim Laaber-Verlag herausgegebene neue Handbuch der Systematischen Musikwissenschaft: 1. Musikästhetik, 2. Musiktheorie (vor kurzem erschienen, lag dem Rez. noch nicht vor), 3. Musikpsychologie, 4. Musiksoziologie und 5. Lexikon der Systematischen Musikwissenschaft.
„Musikästhetik“ bringt einundzwanzig verschiedene Beiträge, davon vier  von der Herausgeberin. Schon im einleitenden Beitrag stellt de la Motte-Haber die Frage des eigentlichen Rahmens der Musikästhetik. Sie legt Wert darauf, dass die zeitgenössische Musikästhetik keinen Anspruch auf eine systematische und normative Theorie erhebt. Vielmehr möchte sie hier den Versuch unternehmen, die Vielfalt von Themen und Fragen unter einigen Kategorien zusammenzufassen. So wird das Handbuch in 6 Kapitel gegliedert: (1) Einleitung Kunsttheorie – Ästhetik – Geschichte; (2) Musik als Symbol, Metapher und Allegorie; (3) Nachahmung, Illustration, Programm, Übersetzung; (4) Autonomie der Musik und ihre Antithesen; (5) Imagination und Einbildungskraft; (6) Situation – Medien –Erfahrung.
Die beiden ersten Kapitel widmen sich traditionellen und historischen Themen der Musikgeschichte. Einige Hauptthemen werden unter verschiedenen Aspekten in mehreren Beiträgen beleuchtet, was dem überschneidenden Charakter der Artikel entspricht. Ein Beispiel dafür ist die pythagoreische Lehre der „Sphärenharmonie“, die u.a. angesprochen wird: von Christian Ziermann in seinem Artikel über das Verhältnis zwischen Musik und Metaphysik in der griechischen Antike, von Klaus Niemöller in seiner Darstellung der Musikästhetik im Mittelalter und im zweiten Beitrag von Helga de la Motte-Haber über die Rolle von Zahlen, Proportionen, Formel usw. im kompositorischen Schaffen bis zur Gegenwart.
Hier zeigen sich auch die Grenzen und Schwächen einer solchen Publikation, die den Anspruch erhebt, ein übergreifendes – wenn auch nicht systematisches – Bild der Ästhetik zu liefern. Nehmen wir als Beispiel den griechisch-französischen Komponisten Iannis Xenakis (1922–2001). Er wird insgesamt zwei Mal (in dem o.g. Beitrag von de la Motte-Haber und später von Marion Saxer) wegen seines Verhältnisses zum Ingenieurwesen und zur Architektur erwähnt, aber sein viel wichtigerer Beitrag zur Musikästhetik wird einfach ignoriert. Xenakis hat als erster eine musikalische Formulierung von Dennis Gabors akustischer Quantentheorie entwickelt und dadurch die Grundlage zu einer Ästhetik der Granularsynthese geschaffen, die durch die Computermusik weiterentwickelt wird.
In Allgemeinen kommt die ästhetische Vielfalt der zeitgenössischen Musik im Handbuch zu kurz. Eine Lieblingsfigur der ausgewählten Autoren ist der amerikanische Komponist John Cage (1912–1992). Sein Name taucht zwölf Mal auf (von den Komponisten wird nur Beethoven öfter zitiert), und Cage nimmt die zentrale Rolle im Artikel von Sabine Sanio ein (Kapitel 6), der die „Verschiebung von Kunst-Werk zum Kunst-Ereignis“ betrachtet. Auf die Musikwissenschaft des späten 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts scheint Cage eine ungeheure Anziehungskraft auszuüben, was vielleicht dadurch zu erklären ist, dass seine Werke die Veränderung des Konzeptes von Kunst so deutlich wie ein Lehrbuch dokumentieren. Cages Musik und Schriften wirken wie saftiges und unwiderstehliches „Fast-Food“, auf das sich Musikwissenschaftler hungrig stürzen. Eine Ausnahme von dieser allgemeinen Tendenz ist der originelle Artikel des Spaniers Santiago Torre Lanza. Er beschreibt, wie Cage und viele amerikanische Komponisten die Ideen des Transzendentalismus übernommen haben.
Von einem Handbuch der Musikästhetik wäre zu erwarten, dass noch unbeleuchtete Themen der jüngsten Zeit unter der Lupe genommen würden, und dass man sich trauen würde, ästhetisches Neuland zu betreten.
Aber das ist nicht der Fall. In den anderen drei Artikeln des 6. Kapitels (Reinhard Olschanski, Ulrich Tadday und Helga de la Motte-Haber) tauchen einige Facetten des „medialen“ Diskurses auf, die sich mit neuen Ansätzen (z. B. Elektroakustische Musik, Soundscapes, Installationen), Wahrnehmungen und Erfahrungen beschäftigen. Die Palette der einzelnen Kunstwerke, die als Beispiel zitiert werden, ist ziemlich begrenzt.
Ich vermisse vor allem eine grundlegende ästhetische Auseinandersetzung mit der Entwicklung der Musiktechnologie, der elektronischen und digitalen Medien. Der Veränderungsprozess der Produktionsbedingungen, der durch die Informations- und Kommunikationstechnologie voll im Gang ist, scheint immer noch abschreckend auf die Musikwissenschaft zu wirken. Wäre es möglich, dass die Musikästhetik die Investigation solcher spannenden Felder, die sich aus der Konvergenz von elektronischen, digitalen und akustischen Medien herauskristallisieren und ständig verändern, anderen Disziplinen wie der Musiktheorie, der Medientheorie und der Medienkritik überlassen will? Die Einschränkung der Themen im Handbuch der Musikästhetik scheint darauf hin zu deuten. Aber es wäre schade.
Die eigentliche Stärke des Handbuchs liegt in der Behandlung von historischen und klassischen Themen der Musikästhetik. Die Auseinandersetzung mit Philosophen wie Baumgarten, Leibniz, Kant, Nietzsche, Goodman, Adorno und vielen anderen prägt die Beiträge, die sich Themen widmen wie z.B.: die Entwicklung der Ästhetik (Astrid Wagner), die Autonomie der Kunst (Heinz von Loesch), die romantische Musikästhetik (Ulrich Tadday), die Genieästhetik (Eberhard Ortland), usw. Robert Schmitt Scheubel suggeriert in seinem Artikel, dass die Künstler einen Sonderstatus in der bürgerlichen Gesellschaft des 18. Jahrhundert genossen haben. Ein solcher Artikel hätte auch in einem Handbuch der Musikgeschichte seine Berechtigung.
Die Kategorisierung von ästhetischen Themen, die von der Herausgeberin de la Motte-Haber am Anfang der Publikation angekündigt wurde, ist vor allem durch die historische Betrachtung von Kategorien gekennzeichnet. Stephan Nachtsheim thematisiert das Verhältnis zwischen Schönheit und Wahrheit, beginnend bei der Antike bis hin zu den wahrheitsästhetischen Theorien des 20. Jahrhunderts von Heidegger, Adorno und Gadamer. Helga de la Motte-Haber schreibt über das Verhältnis zwischen Kunst und Realität in Bezug auf der Programmmusik, Neue Musik, Musik des Sozialistischen Realismus, Zufall, Collage, usw. Das Wort Remix taucht auf, aber nur in Bezug auf Strawinskij und Stockhausen. In einem anderen Artikel schreibt die Herausgeberin über die ästhetischen Kategorien des Erhabenen und des Charakteristischen.
Mit dem Begriff der Nachahmung und der Abkehr von Nachahmungsästhetik im Verlauf des 18. Jahrhunderts beschäftigt sich der Artikel von Wilhelm Seidel. Der Begriff der Nachahmung ist auch Ausgangspunkt des Artikels von Marion Saxer, der sich der Vorstellung und der Geschichte der „Inneren Stimme“ von der Romantik bis zur Gegenwart widmet.
Die Autorin geht den Fragen der kompositorischen Subjektivität und der veränderten Rolle des Autors nach. Am Ende stellt sie fest, dass die „Zeitgenössische Musik und Klangkunst“ extreme Polen darstellen. Das ist m. E. ein irrtümliches Verständnis von Klangkunst.
Solche Kategorisierungsversuche wirken ebenso wie die fehlenden Ansätze zu einer Ästhetik der Musiktechnologie willkürlich und steril. Das Handbuch vermeidet die Auseinandersetzung mit den Massenmedien, der überwältigen Realität der Populärmusik der Welt und den vielfältigen Zwischenbereichen des Musiklebens. Wenn vom Verschwinden des Autors und der Veränderung der Produktionsbedingungen gesprochen wird, kann man die Entwicklung der kommerziellen Musik nicht einfach ignorieren. Überhaupt werden im Handbuch viele Themen ausgegrenzt, die in den letzten 25 Jahren den Horizont der Musikästhetik mit neuen Fragen erweitert haben. Zum Beispiel: Feminismus, Gender und Sexualität (McClary), Kognition (Lakoff, Zbikowski), Musiksemiotik (Agawu, Hatten, Monelle, Nattiez, Tarasti), Postmodernismus (Krims), Stil und Bedeutung (Cioker, Kivy, Meyer, Ratner), Ideologie und Imagination (Johson, Treitler), Rhetorik (Bonds).
Es ist zu hoffen, dass solche Themen in den nächsten Bänden der Laaber-Reihe behandelt werden. Der ästhetische Blick sollte frei und ungehindert schweifen.

Paulo C. Chagas
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 26 (2005), S. 226ff.

 

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