Stegemann, Michael: Franz Liszt. Genie im Abseits. – München: Piper, 2011. – 524 S.: s/w-Abb., Tab.
ISBN 978-3-492-05429-4: € 26,99 (geb.)
Mit seiner ebenso umfangreichen wie gründlich recherchierten Liszt-Biographie beweist Michael Stegemann, Musikjournalist und Professor für Musikwissenschaft an der Universität Dortmund, dass sich solides wissenschaftliches Fundament und Lesevergnügen keineswegs ausschließen müssen. Fern von aller trockenen Faktenhuberei liest sich die Schilderung des rastlosen Künstlerlebens eines „heimatlosen Internationalisten“ (so Béla Bartók über Liszt, zit. auf S. 124) so spannend wie ein Krimi. Obwohl seinem biographischen Gegenstand stets wohlgesonnen, erliegt Stegemann an keiner Stelle der Gefahr der bloßen Heldenverehrung, sondern nimmt sich klug hinter Fakten und Berichten von Zeitgenossen zurück (die er freilich geschickt auswählt, um zu zeigen, wie der umschwärmte Virtuose und „Frauenschwarm“ Liszt zu einem „Genie im Abseits“ werden konnte).
Franz Liszt (1811-1886) wird beschrieben als eine Zentralfigur des 19. Jahrhunderts, als ein europäischer Weltbürger der Musik, der zeitlebens sozial engagiert war, unzählige Benefizkonzerte für wohltätige Zwecke gab und begabte Schüler kostenlos unterrichtete. Stegemann geht auf Liszts Kindheit, die Bedeutung der Partnerschaften zur Gräfin Marie d’Agoult und zur Fürstin Carolyne von Sayn-Wittgenstein sowie sein Verhältnis zu den Zeitgenossen ein und widmet sich dann ausführlich der Frage, wieso die Rezeptionsgeschichte Liszt so stiefmütterlich behandelte. „Rast- und Ruhelosigkeit“ scheine „fast die einzige Konstante in Liszts Leben gewesen zu sein – äußerlich wie innerlich“ (S. 284), und das „einzigartig schillernde, abenteuerliche, verwirrende und widersprüchliche Leben“ war „Segen und Fluch zugleich“ (S. 349), zumal Liszts zwischen verschiedenen Ländern und Sprachen kreisende Existenz (seine emphatisch-patriotische Dankesrede für einen in Ungarn verliehenen Ehrensäbel hielt er in französischer Sprache) die adäquate Einordnung und Würdigung seiner Bedeutung für die weitere Musikgeschichte erschwerte.
Im berühmten „Romantiker-Streit“ wurde Liszt – neben Richard Wagner – vom konservativen Lager zu einer Galionsfigur der Neudeutschen stilisiert und stand im Kreuzfeuer der Kritik. Wagner jedoch entfernte sich zunehmend von Liszt und verstand dessen kompositorische Entwicklung in späteren Jahren nicht: Mit der Reduktion, Beschränkung und Konzentration der musikalischen Mittel in den späten, experimentellen (Klavier)stücke schlug Liszt genau den entgegengesetzten Weg ein wie sein Mitstreiter, Antipode und Schwiegersohn Wagner, dessen „Gesamtkunstwerk“ Übersteigerung aller Mittel und klangsinnlichen Taumel vorsieht. Und doch: „Kaum ein anderer Komponist hat je so weit über seine Zeit hinausgeschaut wie Liszt: ‚Zukunftsmusik’ im wahrsten Sinne des Wortes“ (S. 348). Die Neuartigkeit jedoch des nachgerade visionären Spätwerks, das Brücken bis weit ins 20. Jahrhundert schlägt, wurde lange Zeit verkannt, und die Auswirkungen insbesondere des radikal neuen Formdenken auf die weitere Kompositionsgeschichte sind bislang nur in Ansätzen erforscht. Auch ein Teil der Werke – darunter mehr als 100 Lieder und Kirchenmusik – wird noch heute wenig aufgeführt. Eine höchst unselige Rolle für die Nachwelt spielte Cosima Wagner, Liszts Tochter: Bemüht, ihren Mann aller Welt als Genie zu präsentieren, nutzte sie auch die große Popularität des Vaters, um dem (noch in seinen Anfängen befindlichen) Festspielhaus in Bayreuth Glanz zu verleihen – Liszt hatte, nebenbei bemerkt, Wagner stets auch altruistisch und großzügig finanziell unterstützt, was dieser freilich als sein natürliches Recht einforderte (S. 235).
An Detailreichtum ist die Fülle der erschlossenen Fakten kaum zu überbieten: Man erfährt sogar den Namen der Katze, die mit Liszt und der Fürstin auf der Altenburg in Weimar lebte: „Madame Esmeralda“. Die letzten ca.180 (!) Seiten des Buches umfassen Fußnoten und Quellennachweise, die Bibliographie, ein ausführliches Werkverzeichnis sowie Personen- und Werkregister. So und nicht anders muss man Musikerbiographien schreiben!
Stefanie Steiner
Karlsruhe, 30.12.2011