Paola Capriolo: Der stumme Pianist. Roman [Stefanie Steiner]

Capriolo, Paola: Der stumme Pianist. Roman / Aus d. Ital. übers. von Michael von Killisch-Horn. Neuausg. – München: Bertelsmann, 2011. – 207 S. (Edition Elke Heidenreich)
ISBN 978-3-570-58016-5 :  € 19,99 (geb.)

Der Roman beruht auf einer wahren Begebenheit: Im April 2005 wird an der Küste einer Insel in der Grafschaft Kent ein völlig durchnässter junger Mann im Frack aufgefunden. Er spricht kein Wort, seine Identität ist nicht zu ermitteln. Alle Versuche, mit ihm in Kontakt zu treten, scheitern. Doch in der Klinik stellt sich heraus, dass er konzertreif Klavier spielen kann, und bald geistert die Geschichte vom stummen „Piano-Man“ ohne Identität weltweit durch die Presse.
Paola Capriolo greift diese kuriose Story auf und spinnt sie fort, formt daraus einen glänzend geschriebenen (und ebenso glänzend übersetzten) Roman über existenzielle Fragen des Lebens. Im Buch findet die farbige Krankenschwester Nadine am Strand einen mysteriösen Fremden, der nicht spricht. In der psychiatrischen Klinik scheitern alle Versuche, den Mann zum Sprechen zu bringen und seine Identität aufzudecken. Als man ihm Block und Bleistift gibt, zeichnet er ein Klavier, und am Flügel im Wintergarten der Klinik erweisen sich seine pianistischen Fähigkeiten als konzertreif. Das Sanatorium, eine Klinik wie Thomas Manns Zauberberg, ist von sonderbaren Gestalten bevölkert: die verwirrte Lady, die in einem tragischen Anfall von Paranoia ihren eigenen Sohn für einen Dämon hielt und ihn tötete. Der KZ-Überlebende Rosenthal, der – traumatisiert von seinen Erlebnissen – nicht mehr träumen kann und dessen seelisches Empfinden durch die Musik des stummen Gastes allmählich wiedererweckt wird. Nadine, die Pflegerin, die sich aufopferungsvoll um ihren Schützling kümmert (was ihr freilich alles andere als Glück bringen wird) – sie alle werden von der Musik als einer höheren Sprache berührt und verwandelt.
Paola Capriolos Stil ist kunstvoll und anrührend, großen Raum nimmt die eindringliche Schilderung der Musik und ihrer emotionalen Wirkung ein. In Rückblenden und Briefzitaten von Menschen, die den stummen Pianisten erkannt haben wollen, erzählt die Autorin ihre fiktive Fortsetzung der Geschichte. Sie glaube „an eine Literatur […], die noch immer in der Lage ist, sich mit den großen Themen des Menschen auseinanderzusetzen – oder die es zumindest versucht“, und tatsächlich kommen einem bei der Lektüre viele Fragen in den Sinn, die ebensoviele mögliche Antworten und Interpretationen zulassen: Woher kommt der stumme Pianist? Was hat er erlebt? Ist er der Leiermann aus Schuberts Winterreise, der verschüttete Gefühle freisetzen kann? Oder ein immer wiederkehrender Doppelgänger, der zu verschiedenen Zeiten und Epochen wie aus dem Nichts auftaucht, um die Menschen mit einer höheren Macht zu konfrontieren und dann wieder spurlos zu verschwinden?
Einige dieser Rätsel werden im Buch schließlich aufgelöst. In der Realität fand die kurze Zeitungsnotiz vom „stummen Pianisten“ freilich eine weitaus prosaischere Auflösung: Nach vielen gescheiterten Kontaktversuchen (u.a. mit polnischen und litauischen Dolmetschern) stellte sich am Ende heraus, dass es sich bei dem „Piano-Man“ um einen 20-jährigen Bayern handelte, der nur vorgegeben hatte, ein „stummer Pianist“ zu sein…

Stefanie Steiner
Karlsruhe, 30.12.2011

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