Gerards, Marion: Frauenliebe – Männerleben. Die Musik von Johannes Brahms und der Geschlechterdiskurs im 19. Jahrhundert. – Köln [u.a.]: Böhlau, 2010. – VIII, 363 S.:
Abb., Notenbsp. (Musik – Kultur – Gender ; 8); zugl.: Oldenburg, Univ., Diss., 2008
ISBN 978-3-412-20496-9 : € 49,90 (kart.)
Wenn der Name Johannes Brahms (1833–1897) fällt, stellt sich assoziativ zumeist das Bild des gereiften Komponisten mit weißem Rauschebart und dicker Zigarre in der Hand ein. Eher klein von Statur und im Alter korpulent, nahm Brahms diese „bewusste Imagekorrektur“ (S. 63) erst mit Mitte vierzig vor. Der prächtige Vollbart und eine künstlich in tiefere Register hinabgedrückte Tenorstimme verliehen ihm jene Männlichkeitsattribute, die für Autorität, Souveränität und Würde standen.
Welche Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit die Geschlechterordnung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestimmten, hat Marion Gerards in ihrer Dissertation, deren erweiterte Fassung nun als Buch vorliegt, untersucht. Die Musikwissenschaftlerin und Sozialpädagogin nähert sich dem Komponisten aus kulturgeschichtlicher Perspektive, die die soziokulturellen Kontexte, in die Musik eingebunden ist, in den Mittelpunkt rückt.
Wie die in die Musik einfließenden Geschlechterkonzepte produziert, in der Musik codiert und rezipiert werden, beleuchtet die Autorin in ihrer umfassenden und sorgfältigen Arbeit aus unterschiedlichen Blickwinkeln: zunächst auf der Basis einer sozialgeschichtlichen und biographischen Kontextualisierung, anschließend durch eine Analyse der Musik selbst, der vertonten Texte sowie der darin transportierten Themen und schließlich anhand der Rezeption in Musikzeitschriften, Konzertführern, Werkbeschreibungen und dem Briefwechsel zwischen Brahms und seinen engen Vertrauten Joseph Joachim, Theodor Billroth, Clara Schumann und Elisabeth von Herzogenberg.
Deutlich arbeitet Marion Gerards die strikte Aufteilung in männliche und weibliche Lebensräume und die hierarchisch geprägte Geschlechterordnung heraus. Positive Konnotationen wie Aktivität, Kraft, Energie und Rationalität, die für Männlichkeit stehen, kontrastieren – stellvertretend für Weiblichkeit – mit Inkompetenz, Oberflächlichkeit und Langeweile. Wie die Autorin an zahllosen Beispielen belegt, wurden diese Genderkonnotationen auch zur Beurteilung von Musik benutzt. Welche Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit Johannes Brahms in seinen Vokalwerken entwirft, macht Gerards anhand der Auswahl der Texte und ihrer Vertonung deutlich. Brahms, dessen Verhältnis zu Frauen höchst ambivalent war, spiegelt diese Ambivalenz auch in seinen Vokalwerken. Einerseits, so die Autorin, entsprechen seine Lieder und Chorwerke der üblichen Geschlechterpolarisierung. Andererseits ermöglichen sie dem Komponisten, „die ansonsten zurückgedrängte männliche Emotionalität und Verletzlichkeit“ (S. 330) auszuleben.
Ein sehr informativer und umfassender Einblick in die Verflechtung von Musik und Geschlechterdiskurs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Friedegard Hürter
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 31 (2010), S. 268f.