Spielpraxis der Saiteninstrumente in der Romantik. Bericht des Symposiums in Bern, 18.–19. November 2006 / Hrsg. von Claudio Bacciagaluppi, Roman Brotbeck und Anselm Gerhard – Schliengen: Edition Argus, 2011. – 193 S.: Notenbsp.; Abb. (Musikforschung der Hochschule der Künste Bern ; 3)
ISBN 978-3-931264-83-3 : € 29,00 (geb.)
Die Veröffentlichung der Ergebnisse des Berner Forschungsprojekts über die Interpretationspraxis (Spielweisen und Aufführungspraktiken in verschiedenen Gattungen und auf verschiedenen Instrumenten sowie der menschlichen Stimme) im 19. Jahrhundert geht in die zweite Runde und damit ins Detail. Das in diesem Buch versammelte Material (ursprüngliche Vorträge auf dem 2. Symposium zu diesem Thema) widmet sich der Praxis auf Streichinstrumenten, vornehmlich der Geige, von der aus bis ins 19. Jahrhundert hinein auch ein ganzes Orchester noch „dirigiert“ werden konnte, bevor der Konzertmeister endgültig vom Dirigenten, der sich gern für unentbehrlich hält, verdrängt wurde. Wie die Geigen, die in bestimmten, in Violinschulen und Konzertberichten beschriebenen, Weisen gestrichen wurden, wirklich geklungen haben, lässt sich heute natürlich weiterhin nicht akustisch genau rekonstruieren. Aber wie, ab wann und worin sich vormoderne, noch nicht standardisierte Spielweisen auf barocken oder klassisch-romantischen Streichinstrumenten von denen auf modernen Instrumenten des 20. Jahrhunderts unterschieden, dafür lassen sich einige Indizien herausfinden.
Wie sich die Klangideale wandelten, wie sie standardisiert und auch schon vor der technischen Reproduktion und der mit ihr verbundenen Normierung nivelliert wurden, wird zwar anhand früher Tonaufnahmen auch nur eines einzigen Geigers (Fritz Kreislers) über Jahrzehnte (1910–1942) von Daniel Leech-Wilkinson verfolgt und negativ als Verarmung und Vergröberung beurteilt, aber auch er findet, dass diese Dokumente die letzte Evidenz vermissen lassen.”
Überhaupt scheint die im Titel des Buches als Epochenbegriff verwandte Bezeichnung „Romantik“ eher untauglich, das 19. Jahrhundert auf dem Gebiet der Musik und die damit verbundenen Klangvorstellungen zu charakterisieren. Denn während es z. B. im 19. Jahrhundert niemand als anstößig empfunden hätte, Akkorde auf der Geige arpeggiert vorzutragen statt sie in Doppelgriffe zu zwingen, wurde erst gegen Ende des Jahrhunderts und dann massiv im 20. das orgelgleiche, zäsur- und atemlose polyphone Akkordspiel auch auf der Geige zur technischen und ästhetischen Norm erhoben, weil ausgesprochen romantisch gestimmte theologische Phantasien über das Bachsche Orgelspiel zum Ideal seiner Solo-Musik für Streichinstrumente erkoren wurden. Wofür Philipp Spitta und Joseph Joachim die Vorreiter waren, das perfektionierte Albert Schweitzer dann in seinen Bach-Auslegungen nach dem pseudo-nüchternen Motto, man habe die Musik so zu spielen, wie sie auf dem Papier stünde. Um auf der Geige so wie auf der verhimmelten Orgel spielen zu können, dichtete man der Bachschen Geige auch noch einen fürs akkordische Spiel passenden „Rundbogen“ an. Hier hatte ein rational anmutendes Interpretationskonzept äußerst irrationale Wurzeln, wie Heinz Rellstab und Anselm Gerhard erkundeten.
Auch die alten Künste des Generalbasses, also das harmonische Auffüllen der Basslinie wird in der Rezitativtechnik der romantischen Oper noch eine viel größere praktisch-ästhetische, ja musikdramatische Rolle gespielt haben, als man heute anzunehmen geneigt ist, wenn man nur sieht, was auf dem Papier steht, wie Claudio Bacciagaluppi zeigen kann.
Wie man aus verbrannten Partituren (hier die von dessen Frau Clara dem Feuer überantworteten späten Romanzen für Violoncello und Klavier Robert Schumanns) dennoch Musik wie Phoenix aus der Asche aufsteigen lassen kann, demonstriert Roman Brotbeck, indem er Heinz Holliger in die Karten schaut, wie er aus winzigen Andeutungen, Berichten und Skizzen seine an Schumanns Gedanken anknüpfende Romancenders komponiert hat.
Dies sind nur ein paar wenige Geheimnisse, die in diesem materialreichen Buch gelüftet oder auch als unauflösbar thematisiert werden. Wer das Glatteis der Musikgeschichte liebt, der kann hier fröhlich ausrutschen.
Peter Sühring
Berlin, 16.08.2011