Wald-Fuhrmann, Melanie: „Ein Mittel wider sich selbst“. Melancholie in der Instrumentalmusik um 1800 - Kassel: Bärenreiter, 2010. - 519 S.: Notenbsp. und Abb.
ISBN 978-3-7618-2197-8 : € 59,00 (geb.)
Melancholie in der Vokalmusik zu anderen Zeiten als in denen um 1800 gab es sicher auch, dennoch hängt an solchen Exemplaren nicht der Ballast eines so genannten ästhetischen Diskurses, der eine ganze Gruppe von Kompositionen hervorbrachte und dem sich eine Reihe von Komponisten regelrecht (als Kinder ihrer Zeit und deren Geistes) verschrieben hatten. Diese Gruppe oder Strömung wird von Wald-Fuhrmann ausgemacht und eingekreist und als Gedankenkonstrukt vorgestellt und erläutert. Dieses äußerst sinnvolle Unternehmen führte zu einer der ideenreichsten und sicherlich auch langatmigsten musikästhetischen Untersuchungen der letzten Jahre, mit einem hohen Potential dafür, eingefahrene Argumentationsmuster in der Musikwissenschaft zu relativieren und einer Neubefragung und Neubewertung auszusetzen. Denn allzu unkritisch und leichtgläubig wurde in letzter Zeit einerseits mit den Begriffen einer so genannten „absoluten Musik“ oder eines „autonomen Kunstwerks“, in dem es vorwiegend um Form und Struktur ginge, hantiert, andererseits einer Ideenmusik das Wort geredet, deren Vermögen, außermusikalische Inhalte zu repräsentieren, als schier grenzenlos angenommen wurde.
Und so zeigt diese von der Autorin als akademische Lizenzierung ihrer Lehrbefugnis eingereichte Schrift Glanz und Elend der musikalischen Hermeneutik, des semantischen Hörens und der Ideen- oder Weltanschauungsmusik, der sie durchaus nicht ablehnend gegenübersteht, um deren Legitimitätskrise sie aber weiß und deren Ansprüche sie nicht unbefragt lässt. Wald-Fuhrmann ist skeptisch gegen viele wohlfeil gewordene Begriffe wie die einer reinen, absoluten, autonomen Musik, sie kennt zwar die Tücken auch noch der verbesserten Terminologie, aber auch ihr geht es mitunter recht naiv oder optimistisch um das hinter der Form oder der Struktur eines musikalischen Kunstwerks stehende „Wesentliche“ und um so etwas wie die „eigentliche Aussage“ (S. 15) - weiß der Teufel, was das ist.
Im Brennpunkt steht das mit „La malinconia“ überschriebene Finale aus Beethovens Streichquartett op. 18,6, und überhaupt gilt ihr Beethoven als der epochale Prototyp des musikalischen Melancholikers, der den angestrebten musikalischen Ausdruck ins Metaphysische zu heben vermochte resp. metaphysische Interpretationen des melancholischen Charakters von Musik am intensivsten anregte. Sonst aber bespricht Wald-Fuhrmann die Problematik der subjektivistisch-resignativen Musikkonzeption nicht nur an Beispielen des Kanons der klassisch-romantischen Kunstperiode, sondern erfreulicherweise an vielen Personen und Werken, die nicht kanonisiert wurden, aber zum Teil viel besser verkörpern und demonstrieren, wovon Wald-Fuhrmann spricht: nämlich über absichtsvoll auf melancholischen Ausdruck oder auf melancholische Wirkung hin konzipierte Musik. Und so erstaunlich und erfreulich es ist, dass solche Künstler wie der „finstere“ Boccherini, der ungestüme Clementi, der prototypisch melancholische Hohenzollern-Prinz Louis Ferdinand, John Field und viele andere mit ihren Werken (allerdings fast nur, soweit durch Titel oder andere Etikette ihrer Werke der Zusammenhang zum Thema unmissverständlich und programmatisch überdeutlich ist) reflektiert werden, so verwunderlich ist es, dass unter den kanonisierten Komponisten Wolfgang Amadé Mozart und auch Schubert nur am Rande behandelt werden (deren eigentlich melancholische Stücke auch ausgespart oder umgangen sind) und von den Bachs ausgerechnet Wilhelm Friedemann ganz aus dem Gesichtskreis fiel. Als weiterer Mangel darf erscheinen, dass eine Einheit von Form- und Strukturanalyse sowie ideen- und sozialgeschichtlicher Fragestellungen zwar postuliert, selten aber wirklich durchgehalten wird. Und so bleibt die Frage nach den Mitteln und Techniken, also nach der musikalischen Poetik, mit der melancholischer Ein- und Ausdruck in der Musik dargestellt oder vermittelt wird, seltsam unterbelichtet. Als „Topoi und Signaturen“ der musikalischen Melancholie werden lediglich Tonarten, Taktarten und Tempofragen behandelt. Das Melodische, Rhythmische und Harmonische fehlt fast ganz.
In der imposanten, umfangreichen, ausdifferenzierten Bibliografie konnten kleinere Versehen wohl nicht ausbleiben: irgendwie ist ein sekundärer Titel von Hans-Joachim Hinrichsen unter die primären Musikalien gerutscht und der Autor im Register abwesend; andere im Haupttext erwähnte Autoren und Bücher tauchen weder in der Bibliografie noch im Register wieder auf: auffällig, dass Christian Kadens auf S. 15 erwähnter Einspruch gegen die Idee eines autonomen Kunstwerks bibliografisch nicht erfasst und nicht registriert wurde.
Wald-Fuhrmann kann lebendig und scharfzüngig schreiben, man braucht mitunter einen strapazierfähigen Sensus für raffiniert gebaute Perioden, aber sie hat auch keine Scheu, vereinzelt hässliche Wortungetüme aus dem Wissenschaftsjargon zu verwenden. Von dem Kauderwelsch mancher Habilitationsschrift hebt sie sich aber glücklich ab. Dieses Buch sollte fleißig gelesen werden und Furore machen.
Peter Sühring
Berlin, 28.08.2011