Walter, Michael: Haydns Sinfonien. Ein musikalischer Werkführer. – München: Beck, 2007. – 128 S.
ISBN 978-3-406-44813-3 : € 7,90
Haydns Londoner Symphonien: Entstehung – Deutung – Wirkung / Hrsg. von Renate Ulm. – München: dtv / Kassel u.a.: Bärenreiter, 2007. – 244 S.: 14 Abb.
ISBN 978-3-7618-1823-7 (Bärenreiter), 978-3-423-24296-1 (dtv) : € 14,60
Nach dem Überblick über Joseph Haydns Streichquartette, den Georg Feder 1998 in der Beck’schen Reihe präsentierte, legt Michael Walter, Professor für Musikwissenschaft an der Universität Graz, nun den entsprechenden Band mit Haydns Sinfonien vor. Es ist kein leichtes Unterfangen, die oft recht komplizierten musikalischen Sachverhalte verständlich aufzuarbeiten; Walter löst das Problem jedoch beeindruckend souverän. Die Leitfrage, die seine Untersuchung durchzieht, ist, für welches Publikum Haydn komponierte und wie er dessen Erwartungshaltungen gleichzeitig mitprägte und mit ihnen spielte. Von grundlegender Bedeutung sind die einleitenden Reflexionen zur Chronologie der Sinfonien, bei der Walter sich an der Reihenfolge Feders in der MGG orientiert, zur Besetzung der Orchester, für die Haydn komponierte, zum sinfonischen Schaffen der Zeitgenossen des frühen Haydn, zur Anwendbarkeit der Sonatenform auf Haydns Sinfonien sowie zu den im 18. Jahrhundert bedeutenden Kategorien „Witz“ und „Humor“.
Dass sich Walter bei seinen Analysen auf einzelne Werke konzentrieren muss, versteht sich von selbst. Er setzt Schwerpunkte auf der ersten von Haydn komponierten Sinfonie, den Tageszeiten-Sinfonien und der Es-Dur-Sinfonie Nr. 76. Unter den Pariser Sinfonien wird Nr. 85 La Reine besonders ausführlich behandelt, unter den Londoner Sinfonien die Nr. 94 mit dem Paukenschlag. In ihr deutet Haydn nach Walter die ästhetische Kategorie der „simplicity“ ironisch um (S. 114); in Haydns letzter Sinfonie Nr. 104 werde das Erhabene wirksam (S. 122).
Der von Renate Ulm im Auftrag des Bayerischen Rundfunks herausgegebene Band konzentriert sich auf Haydns Londoner Sinfonien. Sie werden nach bewährtem Konzept in Analysen vorgestellt, durch ausgewählte Dokumente zusätzlich erhellt und in themenbezogenen Essays reflektiert; die Texte werden durch Bildnisse des Komponisten ergänzt. Umrahmt werden die werkbezogenen Beiträge von einer biographischen Einleitung von Claudia Maria Knispel, einem hervorragenden Überblick über die zwölf Sinfonien von Egon Voss sowie der Darstellung der Überlieferungssituation von Armin Raab, die über die Londoner Sinfonien weit hinausgeht.
Als Höhepunkt unter den Werkbetrachtungen kann die sehr sprechende analytische Beschreibung der Sinfonie Nr. 95 von Nicole Restle gelten. Über weite Strecken essayistischen Charakter hat die Werkbeschreibung der Militär-Sinfonie – den dabei angeschnittenen Themenkomplex „politische Musik“ greift Rüdiger Heinze in seinem Essay tatsächlich auf. Sehr lohnend sind der informative Beitrag Renate Ulms zum Geiger und Konzertunternehmer Johann Peter Salomon, Doris Sennefelders Einblicke in das Londoner Konzertleben, die Neuinterpretation des Verhältnisses von Haydn und Beethoven durch Vera Baur und Nicole Restles einfühlsame Überlegungen zu den Beziehungen Haydns zu seiner Frau, seiner langjährigen Geliebten Luigia Polzelli, seiner Brieffreundin Marianne von Genzinger und seiner Londoner Bekanntschaft Rebecca Schroeter.
Gerade wenn man für ein breiteres Publikum schreibt, sollte der Redaktion eines Bands besondere Bedeutung zukommen, denn Ungenauigkeiten verbreiten sich so schneller und setzen sich hartnäckiger im allgemeinen Bewusstsein fest. So ist weder die Sinfonie Nr. 59 „ursprünglich als Einleitungsmusik zum Schauspiel Die Feuersbrunst entstanden“ (S. 154) noch hatte Haydn das Adagio der Sinfonie Nr. 44 „als Musik für seine eigene Leichenfeier bestimmt“ (S. 156). Auch war es nicht Fürst Paul Anton Esterházy, der Schloss Eszterháza nach Versailler Vorbild umbaute (S. 137), sondern sein Bruder und Nachfolger Nikolaus „der Prachtliebende“. Und dass es sich bei Haydns Sinfonie Nr. 92 mit dem Beinamen Oxford gerade nicht um eine der Londoner Sinfonien handelt, wie auf S. 154 zu lesen ist, geht schon aus der Werkauswahl des Bands selbst hervor. Schließlich dürften die Literaturangaben in einigen Fällen für den Leser nur mit Mühe zu erschließen sein: Der häufig als „Robbins Landon“ zitierte Autor findet sich im Literaturverzeichnis korrekt unter „Landon“, „Jones“ von S. 88 und 96 ist im Literaturverzeichnis irrtümlich unter „Wyn Jones“ eingetragen, „MGG, Personenteil, Bd. 8“ (S. 140) findet man dort unter dem Verfasser des Haydn-Artikels, Georg Feder. Mehrfach fehlen zudem die Angaben der Jahreszahlen, die eine eindeutige Zuordnung der Literaturangaben erst ermöglichen.
Nichtsdestoweniger handelt es sich bei beiden Büchern um grundlegende Überblicksdarstellungen, die in keiner Musikbibliothek fehlen sollten.
Christine Siegert
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 28 (2007), S. 179f.