Gülden, Jörg: Woodstock. Wunder oder Waterloo? – Höfen: Hannibal, 2009. – 256 S.:56 s/w-Abb.
ISBN 978-3-85445-299-7 : € 14,95 (Pb.)
Wenn Männer älter werden und die einstigen Ideale der Jugend in die Ferne gerückt sind, dann kommt meist die Zeit der Abrechnung. „Eine Abrechnung“, das ist der Untertitel von Güldens Buch zu „diesem unter dem Strich katastrophalen Festival namens Woodstock“ (S. 12). Klar, die Veranstalter wollten „abzocken“ (S. 25) und all jenen, die zu behaupten wagen, daß in den 50er- und 60er-Jahren vermutlich nicht alles ausschließlich auf Profit ausgerichtet und schlecht war, entgegnet der Autor: „Ein Scheißdreck war’s“ (S. 37). Nun wissen viele Leser ja seit dem Erscheinen von Unser Kampf von Götz Aly, einem anderen älteren Herren, der im Zorn zurückblickt, daß die 68er-Generation fast so schlimm war wie die Nazis, aber was sich da im August 1969 in der Verantwortung der Woodstock-Generation zwischen Matsch und Mucke so abspielte, liest sich bei Gülden wie die Beschreibung der letzten Tage im Führerbunker. Es war eng, das Essen wurde knapp und zwischen Enttäuschung, Apathie und dem Versuch zu überleben verlor sich der Bezug zur Realität. Dabei wurde ein Mythos geboren, der nicht totzukriegen ist: Der Aktivist Abbie Hoffman sprach gar von der „WoodstockNation“.
Jörg Gülden starb im Mai dieses Jahres im Alter von 64 Jahren. Als Musikjournalist hatte er sich seit den 1970er Jahren u. a. bei Sounds einen Namen gemacht und als Herausgeber der ersten bei Rowohlt erschienenen Rock-Session-Bände. Gülden war Mitbegründer der deutschen Ausgabe des Rolling Stone und bis 2002 dessen Chefredakteur. In seinem Woodstock-Buch finden sich viele Abbildungen von Zeitungsartikeln, Publikationen und LP-Covers zum Thema, außerdem eine von Uwe Husslein zusammengestellte Bibliographie und ein Verzeichnis von Woodstock-Schallplatten, ‑CDs und -DVDs.
Güldens Buch ist allerdings ein zwiespältiges Vermächtnis. Im Hinblick auf zurückliegende Jahrzehnte schreibt er, sie würden meist „von unbedarften Nicht-dabei-Gewesenen (…) missinterpretiert“ (S. 37), doch Gülden war eben auch nicht dabei in Woodstock. Natürlich ist er keineswegs ein unbedarfter Autor, und sein Abriß der Ereignisse ist gut recherchiert und überwiegend lesenswert, aber er hat in seinem Ärger wohl den Abstand verloren. Die eingestreute Geschichte vom „Bootlegger Maik“, der auf der Jagd nach Tonbandmitschnitten die Welt bereist, und den Gülden im Buch aus dessen eigener Woodstock-Erfahrung berichten läßt, wirkt wie eine unglaubwürdige Hilfskonstruktion, vermutlich erfunden, um eine Person, die angeblich vor Ort anwesend war, stellvertretend für den nicht dabei gewesenen Autor als Zeitzeugen sprechen bzw. schimpfen zu lassen.
Wieso konnte das „katastrophale“ Woodstock, mit seinem nach Auskunft Güldens mangelhaften Musikprogramm, dennoch zur einmaligen, nicht reproduzierbaren Legende und zu einer der Ikonen der Sixties werden? Die Antwort kann Gülden nicht mehr geben.
Manfred Miersch
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 30 (2009), S. 272f.