Kai-Ove Kessler: Die Welt ist laut. Eine Geschichte des Lärms – Hamburg: Rowohlt, 2023. – 448 S.
ISBN 978-3-498-00354-8 : € 27,50 (geb.; auch als eBook)
Erzählfreude ist das Grundrauschen dieses Buches. Sein launiger Plauderton will der Lektüre den Weg bahnen und erreicht in eigentümlicher Dialektik sein genaues Gegenteil, gerade weil es ständig so tut, als würde es seinen Stoff im Vorübergehen finden. Wie von ungefähr erinnert die Lektüre an einen Schaufensterbummel. Alles wie hinter Glas. Die Dinge dekoriert, drapiert, entkleidet ihrer Herkunft, ihrer Entdeckungsgeschichte. Mit Kai-Ove Kessler darf sich der Leser der Illusion hingeben, in ein ausformuliertes Hör-Panorama, beginnend in kosmisch-realer Ur- und Vorzeit, endend im „Heute”, eintreten zu können wie weiland Robinson auf seine Insel. Was der Rezension als erste Pflicht aufgibt, die Gattung zu ermitteln, in deren Bahnen sich dieser flanierende Streifzug ums Lautsein bewegt. Der Autor selbst schweigt sich darüber aus. Zu vermuten ist, dass er es selber nicht weiß, sich dafür auch nicht interessiert hat. Auf ein Literaturverzeichnis jedenfalls glaubte der Autor, verzichten zu dürfen.
Zu welchem Fachgebiet dieses Buch einen Beitrag leisten will, wie es sich verortet in den aktuellen Diskursen, welchem Geschichtsverständnis es verpflichtet ist, auch diesen Fragen weicht sein Autor aus. Psychoakustik und Lärmforschung, Disziplinen, die auf empirischen Füßen stehen, die hinsichtlich Forschungsstand, Forschungsbedarf befragbar sind, spielen keine Rolle, wenngleich sie thematisch immer wieder hineinspielen. Wollte man für das, was Kai-Ove Kessler in seinem Schnelldurchgang vom Urknall bis Heute aufbereitet, einen irgendwie gearteten wissenschaftlichen Hintergrund aufrufen, müsste man zunächst die Kultur- und Naturgeschichten nennen wie sie Will Durant, Egon Friedell oder Albert Bettex geliefert haben. Letzterer etwa hatte für seine Entdeckung der Natur, erschienen 1965, die Kronzeugen Charles Darwin, Johann Wolfgang von Goethe, Alexander von Humboldt einbestellt. Und was die Methodendiskussion angeht, die Friedell in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit vorgenommen hatte, so wird dies von Kessler ebenso ignoriert wie der Orientierungsanspruch, mit dem Friedell seine Arbeiten im Horizont der großen europäischen Katastrophe 1914-1918 verstanden wissen wollte.
Nein, dieser Anzug, spätestens daran merkt man es, ist partout zu groß für Kessler. Seine Geschichte des Lärms leistet sich einfach zuviel Geschichtsvergessenheit. Dabei hätte er in Alexander von Humboldts Kosmos problemlos nachlesen können, dass es eine „Geschichte der physischen Weltanschauung” gibt, immer gegeben hat. Und er hätte lernen können, dass diese Geschichte einhergeht mit dem Fortschritt einer messenden Wissenschaft. Hatte Humboldt noch gemahnt, „sorgfältig” und „scharf” zu trennen zwischen „frühem Ahnen und wirklichem Wissen”, hat Kessler damit nicht nur kein Problem, sondern bekennt sich ausdrücklich zum späten Ahnen. „Wo keine Quellen helfen konnten, habe ich meine Fantasie gebraucht.” Was nun freilich auch nicht bedeutet, dass der Autor sein ganzes Vorhaben als Literatur, als Roman verstehen würde. Dafür fehlen ihm wiederum die Vernes-Farben, Vernes-Phantasmen. Diese „Geschichte des Lärms” gehört nicht dahin, gehört aber auch nicht dorthin. Wohin dann? – Machen wir eine Probe.
Immer wenn es laut wird, hört Kai-Ove Kessler genau hin und macht ein neues Kapitel auf. Verkehrslärm, der Industrielärm, die Kriege der Menschheit erscheinen gleich mehrfach. Bei Letzteren schwenkt Kessler bis zurück in die Bibel, wobei der Autor, wenn er, unvermeidlicherweise, auf die Trompeten vor Jericho zu sprechen kommt, gelassen abwinkt: der von Schofaren erzeugte Schalldruck reiche für einstürzende Altbauten nicht aus. In dieser Art geht es durch Raum und Zeit. Mischung aus Positivismus, Simplifizierung, Skandalisierung. Gut bekannt als Hamburger Aufklärung. Es ist der Stil eines Nachrichtenmagazins, auf den Kessler seine Leser einschwört. Für einen in Hamburg ansässigen NDR-Redakteur durchaus naheliegend. SPIEGEL-Manier bis in die Kapitelüberschriften. „Biblischer Lärm: Wie Gott zum Radaubruder wurde”, „Rom: Millionenstadt im Lärmtaumel”, „Gepeinigte Großstädte: Nur raus hier!” Stimmt, so richtig hat man eigentlich keine Lust auf diese „Geschichte des Lärms”. Kai-Ove Kessler liebt den Tiefflug. Das schrappt dann schon mal am Rumpf.
Alles soll losgegangen sein, weiß die Hamburger Aufklärung, mit dem „Urknall”. Andererseits, gibt Kessler zu bedenken: So laut, wie wir meinen, war der gar nicht. Eigentlich war er überhaupt nicht laut, erfahren wir. Warum nicht? Weil es den Raum, in dem sich der Schall hätte ausbreiten können (und auf einmal tönt es wie oben bei den Schofaren) noch gar nicht gab. – Andererseits, wir wollen nicht ungerecht sein. Es gibt auch schöne Stellen in diesem Buch. Ausgerechnet die Realparadoxie des unhörbaren Urknalls evoziert einen der poetischsten Sätze dieser Lärm-Geschichte: „So ungewöhnlich es klingt: Es war in diesem Moment totenstill.” So richtig laut wird es erst, weiß Kai-Ove Kessler, „vor 4,85 Milliarden Jahren”. Die Klappe fällt zur Erdentstehung. Kesslers freihändig verfasstes Kapitelchen „Das Weltall lernt hören” könnte sehr gut Textvorlage sein für eine Graphic Novel oder für eine Sendung mit der Maus. „Vulkanausbrüche, Erdbeben, Meteoriteneinschläge und andere kosmische Katastrophen erzeugten akustische Höllenspektakel.” – Als „Journalist, Historiker und Musiker”, der „seit mehr als 20 Jahren als Redakteur beim Norddeutschen Rundfunk arbeitet” (Klappentext), hat sich Kai-Ove Kessler daran gewöhnt, den Ball flach zu halten, immer (ein Blick in den Anmerkungsteil verrät es) mit der Maus in der Hand, der Suchmaschine auf dem Desktop. Dass diese Geschichte des Lärms 400 Seiten hat, ist reiner Zufall. 800 oder 8.000 wären ohne Probleme machbar.
Georg Beck
Düsseldorf, 25.06.2023