Überdada, Componist und Expressionist. Erwin Schulhoff in Dresden. Mit Briefen, Dokumenten und seinem Tagebuch / Hrsg. von Matthias Herrmann. – Baden-Baden: Tectum, 2023. – 400 S.: s/w-Fotos, Farb- u. s/w-Abb. (Dresdner Schriften zur Musik 15)
ISBN 978-3-8288-4616-6 : € 99,00 (geb.; auch als eBook)
Europa nach der Erfahrung des ersten Weltkrieges: Die alte Welt stürzt in eine tiefe Depression, doch am Horizont kündigt sich zur selben Zeit eine Aufbruchsstimmung an, die zu der kurzen, aber intensiven Blüte der „Roaring Twenties“ führt. Kunst, zumal solche mit seismografischem Gespür, reagiert auf diese Unsicherheit mit Ironie, Sarkasmus, Ablehnung des Alten und der Suche nach einem Neuen, Unverbrauchten. Eine prägende Zeit dies auch für Erwin Schulhoff, den 1894 in Prag geborenen und aufgewachsenen Komponisten und Pianisten: Traumatische Kriegserfahrungen und Identitätsverlust zwingen ihn zu einer Neuorientierung. An die vielversprechende Karriere als Konzertpianist kann Schulhoff zunächst nicht anknüpfen, der Schritt in ein selbständiges Leben misslingt erst einmal. Nach Beendigung des Studiums konzentriert er sich nun ganz auf das Komponieren. Im Januar 1919 zieht er nach Dresden, wo seine Schwester bereits wohnt, doch der erhoffte Karriereschub bleibt aus. Schulhoff knüpft Kontakte zu Künstlern und Schriftstellern, unter ihnen Otto Dix und George Grosz. Er organisiert eine Konzertreihe unter dem Titel „Fortschrittskonzerte“, deren sechstes, das Dada in größerem Rahmen vorstellen sollte, nicht über die Planung hinauskommt. Der Dadaismus, wenige Jahre nach dem italienischen Futurismus entstanden, will anti-bürgerliche, gesellschaftskritische Anti-Kunst sein; es ist in erster Linie performative Kunst, ganz aus dem Moment, dem Lebensgefühl seiner Protagonisten geboren, mehr Aktion als Werk. Die Musik hatte in der Dada-Bewegung einen schweren Stand: Die expressionistische Musik der Wiener Schule wurde als spätbürgerliche Übersteigerung, Verfeinerung abgelehnt, stattdessen der damals ganz junge Jazz mit Begeisterung gehört. Einige Werke Schulhoffs aus dieser Zeit, um 1920, enthalten dadaistische Elemente – Anklänge an populäre Musik, Jazz und Gassenhauer, mechanische Musik, Primitives und Hässliches – beispielsweise die 5 Pittoresken für Klavier op. 31. Schon im folgenden Jahr, im Herbst 1920, verlässt Schulhoff Dresden und zieht, zur Sicherung des Lebensunterhaltes, nach Saarbrücken.
Dieser kurze Zeitabschnitt, Scharnier zwischen den Lehrjahren und der dann eigentlichen schöpferischen Lebensphase, ist Gegenstand des vorliegenden Buches. Es basiert auf Vorträgen, gehalten in der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden im November 2018, als Teil des von Matthias Herrmann organisierten „Tag für Erwin Schulhoff“. Herrmann, emeritierter Professor der Dresdner Musikhochschule, ist gleichzeitig Herausgeber der sorgfältig lektorierten Publikation. Die aus den Vorträgen hervorgegangenen Aufsätze bilden einen von vier Schwerpunkten, samt einem umfangreichen Abbildungsteil und dem erstmaligen Abdruck von Schulhoffs Tagebuch der Jahre 1911 bis 1941. Ergänzt werden die drei Hauptteile durch Korrespondenz aus der Zeit des Dresdner Intermezzos, mit Arnold Schönberg, Richard Stiller und Egon Wellesz; die Anzahl der Briefe geht für keinen der Briefpartner über den einstelligen Bereich hinaus.
Auf den biografischen Abriss (zugleich Einleitung) des Herausgebers folgen sieben Beiträge, die einzelne Aspekte von Schulhoffs Dresdner Zeit ins Blickfeld rücken. Die Themenwahl ist, was kaum zu vermeiden war, durch die Schulhoff-Literatur der frühen 1990er Jahre vorgegeben. Schulhoffs Musik wurde, wie diejenige anderer verdrängter und vergessener Musiker, in der Mitte der 1980er Jahre wiederentdeckt. Schon etwa zehn Jahre später war ein Großteil seiner Werke auf Tonträgern erhältlich und fand rasch, dank seiner recht unmittelbaren Zugänglichkeit, Eingang ins Repertoire (und wird auch heute viel gespielt). Dies alles verdankt sich der Pionierleistung einzelner Schulhoff-Forscher, in erster Linie Josef Bek, der 1994 eine Biografie vorlegte und Tobias Widmaier, der sich als Autor und Herausgeber um Schulhoff verdient gemacht hat. Eigens dem Dresdner Aufenthalt waren seinerzeit einige Schriften gewidmet, deren Ergebnisse nun in der vorliegenden Publikation präzisiert und erweitert werden. Die Frage, ob Schulhoff Teil der Dada-Szene in Dresden war oder eher stiller Teilhaber, wird von Tobias Widmaier erörtert, der hier besonders die Verbindung zu George Grosz in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt. Dem Künstler verdankt Schulhoff zu dieser Zeit die entscheidenden Anregungen, wie sie sich etwa in den genannten 5 Pittoresken op. 31 niederschlugen. Der Beitrag von Johannes Schmidt porträtiert den jungen Conrad Felixmüller als Kopf der „Dresdner Sezession 1919“, eines kurzlebigen Forums der jungen Kunst. Drei Beiträge widmen sich Schulhoffs musikalischem Standort: Manuel Gervink zeichnet seine kurzzeitige Orientierung an der Wiener Schule und dem musikalischen Expressionismus nach, als dessen Ausweg ihm dann, wenn auch nur kurzzeitig, der Jazz erschien. Ebendies, des Komponisten Jazzverständnis zwischen authentischem Jazz und (später dann) unterhaltender Tanzmusik, arbeitet Miriam Weiss in ihrem erhellenden Beitrag auf. Eine musikhistorische Einordnung Schulhoffs leistet Jörn Peter Hiekel, ohne zu verschweigen, dass die Originalität weniger in den Werken sich manifestiere, sondern eher in Tendenzen des Komponierens, so etwa in der Inspiration durch Dada, durch die körperliche Dimension der Werke oder auch durch das Weltbezogene, Politische. Zwei Beiträge nehmen sich zwei sehr konträre Werke des Komponisten vor: Tobias Schick analysiert das erste Streichquartett von 1924 unter dem Aspekt des Bezuges zur Gattungsnorm und Michael Heinemann rückt das offenkundig Obszöne der Sonata erotica in den Kontext von Körperlichkeit, Aus-Druck von Vokalität, Theatralität und Grenzüberschreitung (Tobias Widmaier betont in seinem Beitrag hier eher den nonkonformistischen, sexuelle Tabus brechenden Einfluss von Grosz).
Als ein nicht besonders sympathischer Briefeschreiber begegnet uns Schulhoff im recht schmalen Korrespondenzteil. Der Tonfall ist sicher zeitbedingt zu verstehen, als Dada-Attitüde, doch letzten Endes ist dem Briefempfänger Arnold Schönberg kaum zu verdenken, die Zusage zu einer geplanten Aufführung zweier Werke, der Kammersymphonie und des Pierrot lunaire, im Rahmen der Fortschrittskonzerte zu verweigern, der arrogante und überhebliche Ton des Absenders lässt ihm keine Wahl.
Die dokumentarischen Anhänge sind wohl der eigentliche Mehrwert des Buches: Im Bildteil werden 83 Abbildungen dokumentiert, Fotografien, Plakate, Briefe, Notenblätter und zahlreiche Kunstwerke der Sezessionisten. Das originale Tagebuch konnte von Josef Bek und Markéta Královcová 1971 im Nachlass konsultiert werden, beide fertigten glücklicherweise eine Abschrift an. Das Original ist heute nicht mehr auffindbar, so dass der Abdruck auf dieser Abschrift basiert; die Druckfassung ist vorbildlich ediert und – zugunsten des Lesbarkeit – nicht mit Anmerkungen überladen. Der Entwicklung im Denken Schulhoffs, wie sie sich hier auch sprachlich manifestiert, zu folgen, macht den vielleicht größten Gewinn des Buches aus.
Rüdiger Albrecht
Berlin, 18.09.2023