»… in das verlorene Paradies«. Festschrift in memoriam Annette Otterstedt zum 70. Geburtstag am 23. September 2021 / Hrsg. von Andreas Schlegel. – CH-Menziken, The Lute Corner, 2022. – 311 S.: Abb., Notenbsp.
ISBN 978-3-9523232-4-3 : € 75,00 (geb.; auch als e-Book : € 30,00)
Es hätte eine Festschrift zu ihrem 70. Geburtstag werden sollen und wurde nun zu einem posthumen Gedenkbuch an die in ihrem 69. Lebensjahr verstorbene bedeutende Gambistin und Musikhistorikerin. In ihm sind Beiträge erschienen, die nicht nur ihr zu Ehren, sondern auch in ihrem Geiste geschrieben sind und selbständige Forschungsergebnisse präsentieren. Wer Annette Otterstedt, wie der Rezensent, nur von einigen ihrer Publikationen und ihrer Moderation einiger ihrer Gesprächskonzerte zum (frei nach Mattheson) „neu eröffneten Orchestre“ im Berliner Musikinstrumentenmuseum her kennt, weiß zumindest, um welches Niveau und um wieviel Konzessionslosigkeit gegenüber den auch in der Alte-Musik-Bewegung herrschenden Gemeinplätzen es hier geht. Otterstedt war die Verfasserin des bis heute maßgeblichen und auch ins Englische übersetzten historischen Buchs über die Gambe, das leider vergriffen ist und auf dessen Nachauflage man schon lange vergeblich wartet.
Annette Otterstedt war immer ganz fassungslos, wenn ein Musikkritiker oder -wissenschaftler es wagte, über Musik zu sprechen, ohne die instrumentale Basis ihres Erklingens zu kennen oder auch nur dilettantisch zu bedenken. Dass das Gleiche auch im Bereich der Vokalmusik für die gesangliche Basis gilt, wollte sie nicht eigens betonen, blieb vielleicht auch ein blinder Fleck in ihrer historischen Betrachtungsweise. Ihre Denkweise war in einem anderen als dem umgangssprachlichen oder philosophischen Sinn materialistisch, d.h. materialbezogen, und sie plädierte unermüdlich dafür, sich um den Stoff zu kümmern, aus dem Klänge entstehen.
Die historische Wende zugunsten der Instrumentalmusik im 17. Jahrhundert war ihr ein selbstverständlich positiver Vorgang, und die daraus gewachsenen musikalischen Formen waren ihr sehr naheliegend, sodass schon das Unverständnis von Zeitgenossen dieser Wende für Otterstedt erschreckend, aber erhellend war, welches sich in dem Ausspruch des französischen Philosophen Bernard de Fontenelle über die ersten instrumentalen Tonstücke (“Sonaten“) kundtat: „Sonate, was soll mir das?“ Zwar können heute mehrheitlich Musikliebhaber auch mit Sonaten und anderen instrumentalen Werken der Tonkunst etwas anfangen, aber der Unterschied zum Singen oder die von Singen auf das Instrumentenspiel übertragenen artikulatorischen Probleme besonders in älterer Musik und der auf Gamben werden selten in der von Otterstedt angestrebten Tiefe beachtet und betrachtet.
Es ging ihr hauptsächlich um Fragen der Artikulation, im Widerstand gegen alles Mechanische und Vereinheitlichte, das sich auch durch die Modernisierung der alten Instrumentengenerationen allmählich durchsetzte. Jene Freiheit in der Interpretation durch abwechslungsreiche und charaktervolle Artikulation, wie die alten Instrumentalisten sie besaßen, zurückzugewinnen, war ihr das höchste Ziel beim Spielen alter Instrumente und alter Musik, weniger die Rekonstruktion von Regeln oder das Jagen nach einer fiktiven Authentizität.
Abgesehen von dieser generellen Einstellung war das wichtigste musikalische Feld, auf dem sie praktisch und historisch forschend tätig war, die Instrumentenfamilie der Violen, immer wieder betonend, dass die Gambe vom Diskant bis in den Bass ein anderes Geschlecht und ein anderes Klanguniversum repräsentiert als das der Violine in ihren verschiedenen Lagen von der Geige bis zum Kontrabass. Wie sie zu diesen Einsichten kam, welche Erfahrungen diesen allgemeinen und besonderen Anschauungen zugrunde lagen, hat sie selbst am Besten in dem in diesem Buch abgedruckten autobiographischen Essay dargelegt, in dem sie ihren Weg schilderte, den sie sich zwischen guten und schlechten Traditionen und Lehrern bahnen musste. Zwar war ihr klar, dass die von ihr beklagte Oberflächlichkeit und die Schwächen im Spielen alter Musik jüngeren Datums sind und durch die Industrialisierung, Fetischisierung und Visualisierung des Musikbetriebs gefördert wird, aber mit Vorliebe zitierte sie aus alten Dokumenten, um zu zeigen, dass die Kritik an mechanischem, steifem, geistlosem Spiel, an Eigen- anstelle von Musikdarstellung schon so alt ist wie die Musik auf Instrumenten selber. Und sie entwarf mit ihrer Vorstellung von „Kraft, Ausgeglichenheit und leichter Spielbarkeit“ ein Gegenbild gegen den marktgängigen Betrug an der Musik, wie ihn auch einige berühmte Gambenspieler der Gegenwart betreiben.
Dass man ein musikalisches Kunstwerk verschieden interpretieren kann, ist eine allgemeine Wahrheit, darum war es für Otterstedt unverständlich, warum man als Musiker nicht bereit sein sollte, verschiedene Interpretationen selber auszuprobieren und zu präsentieren, statt eine einzige ein Leben lang durchzuhalten. Schonungslose Kritik an Missständen in den Institutionen, der Überlieferung und der Ausbildung, die die Lebendigkeit des Musizierens untergraben, waren die unvermeidliche Folge ihrer Wahrheitssuche und -liebe. Sie war so mutig, sich in eine solche Institution, das Berliner Musikinstrumentenmuseum, zu begeben, um dort den Umgang mit Instrumenten zu kuratieren, obwohl sie bereits 1986 in dem Magazin für Alte Musik CONCERTO eine vernichtende Kritik dieser Einrichtung veröffentlicht hatte. Die damit verbundenen Querelen sollen hier nicht ausgebreitet werden, es genügt der Hinweis, dass keiner ihrer Kritikpunkte beseitigt worden ist und, wie Martin Elste, ebenfalls ein ehemaliger Mitarbeiter dieser Institution, in der Otterstedt-Festschrift äußerst plausibel feststellt, auch nicht beseitigt werden kann, ohne dieses für den Zweck der Aufbewahrung, Präsentation und Bespielung alter Instrumente völlig ungeeignete monströse Gebäude als Anhängsel der Philharmonie und des Staatlichen Instituts für Musikforschung zu verlassen, in eines der früheren geeigneteren Museumsgebäude in Dahlem umzuziehen und den Rest der Musikforschung und der öffentlichen Beschäftigung mit modernen Instrumenten in direkter Verbindung mit der Philharmonie zu überlassen.
Die würdige Festschrift für Annette Otterstedt enthält eine große Anzahl von speziellen Untersuchungen ‑ eine Freude für jeden an den Details der Instrumenten- und Musikgeschichte Interessierten. Sie sind von fachkundigen und forschungseifrigen Instrumentenbauern und ‑historikern, Restauratoren und Instrumentalisten geschrieben und mit Liebe ausformuliert und illustriert worden. Die Kolleginnen und Kollegen aus dem angloamerikanischen Bereich, in dem Otterstedt viele Freunde hatte, sind gebührend vertreten. Es sind zu viele, um sie hier aufzuzählen, zu gleichrangig gut oder zu divers in ihrer Thematik, um einzelne hier hervorheben zu können. Der Band ist aufwändig gestaltet, hat ein edles Layout und hervorragende Illustrationen, weswegen er auf satiniertem Papier gedruckt werden musste, wiegt daher viel und kann für diese Aufmachung geradezu als wohlfeil im Preis bezeichnet werden.
Peter Sühring
Bornheim 20.12.2022