Matthias Henke: Emmy Rubensohn. Musikmäzenin / Music Patron (1884-1961). Übersetzung ins Englische von Josephine Beney.
Berlin und Leipzig: Hentrich & Hentrich, 2022. – 368 S.: zahlr. farb. Abb.
ISBN 978-3-95565-523-5: € 32,00 (Klappbroschur).
Emmy Rubensohn, eine jüdische Musikmäzenin mit Emigrationsgeschichte: Lohnt es sich, auch außerhalb konkreter Interessen an Gender-Forschung dieses Buch zur Hand zu nehmen? Ja, auf jeden Fall! Und zwar nicht nur, weil das Erinnern einer Exilierungsbiographie ein Zeichen des Respekts vor den individuellen Leid- und Lösungsstrategien ist, sondern auch, weil von Emmy Rubensohn ein reiches Netz an international wirksamen kulturellen Verflechtungen ausgeht. Von ihrem jugendlich-unbedingten Eintauchen in die Musikstadt Leipzig der Jahrhundertwende über ihr aktives Engagement für das Kasseler Kulturleben, das sie ab 1907 zu ihrer geistigen Heimat formte, bis hin zu den kulturell erlebten Stationen des Exils in Shanghai (ab 1938) und New York (ab 1947) lernen wir Emmy Rubensohn geb. Frank als eine Möglich-Macherin kennen, die Kulturschaffende zusammenbringt und sie dabei unterstützt, ihre Potenziale zu entfalten. Wir tauchen ein in ein Leben, das sich aus Musik und Kultur speist und mit Hilfe dieses festen, zum Eigenen gemachten Personenkerns auch den Verwerfungen der Geschichte trotzt. Insofern macht diese Biographie Mut und Hoffnung – speziell in unserer an Flucht- und Migrationsschicksalen allzu reichen Gegenwart. Es veranlasst aber auch zu Überlegungen, inwiefern die Situation heute eine ganz andere ist und welche Rolle der Kultur dabei zukommen könnte.
Zentrale Quelle und offenbar Anstoß für die in diesem Buch in reicher Fülle aufbereitete Forschung ist das Gäste- und Erinnerungsbuch, das Emmy Rubensohn lebenslang führte und das ihr offenbar half, ihr Dasein als sinngezeugt und kohärent zu erfassen: Das „Rubensohn’sche Gästebuch [ist] auch ein beeindruckendes Dokument des Widerstands, des Exils, in dem Menschen wie Emmy und Ernst Rubensohn Halt in der Kunst fanden, sich den Blick für das Schöne bewahrten, ungeachtet aller seelischen und materiellen Belastungen, Hitler und seinen willigen Vollstreckern zum Trotz, ein Dokument, in das zahlreiche Prominente des kulturellen Lebens einschrieben: Benno Elkan, Eduard Erdmann, Wilhelm Furtwängler, Oskar Kokoschka, Ernst Krenek, Darius und Madeleine Milhaud, Dimitri Mitropoulos, Joseph Rosenstock, Ernst Toch, Alma Mahler-Werfel, Kurt Singer, Alfred Vocke, um nur einige zu nennen“, heißt es in der Ankündigung des 80seitigen Ausstellungskatalogs, der der vorliegenden Publikation vorausgegangen ist.
Diese Ausstellung, die der Herausgeber (2008-2019 Professor für Musikwissenschaft in Siegen, intensives Engagement für Friedrich Cerha, Ernst Krenek und Kurt Weill) mit Studierenden der Universität Siegen im Herbst 2018 initiiert hatte, schloss eine langjährige Forschungsphase ab – der Autor spricht von zwei Jahrzehnten. Auch für das aus dieser Ausstellung hervorgegangene, nun 368 Seiten umfassende Buch wurde das Katalogformat gewählt, und es profitiert ganz ungemein davon: Zahlreiche gestochen scharfe und sinnstiftend ausgewählte Abbildungen (historische und gegenwärtige, auch der Herausgeber hat sich mit der Abbildung eines eigenen Buchcovers verewigt) sind in graphisch ansprechender Lockerheit in den Text eingeschossen und zeigen weit mehr als die in „üblichen“ biographischen Darstellungen verbreiteten Personenfotos. Als großzügige Einblicke in Zeit und Umfeld bilden sie gewissermaßen eine eigenständige dritte Ebene des Erzählens – neben dem deutschen Text auf den jeweils linken Katalogseiten und dessen englischer Übersetzung rechts daneben. So wird das Leben von Emmy Rubensohn gewissermaßen polyphon erzählt: eine konstruktive Idee, um diese Musikenthusiastin als kulturelle Akteurin ins historische Bewusstsein zurückzubringen.
In ihrer Geburtsstadt Leipzig fand die jüngste Tochter einer jüdischen Unternehmerfamilie das ideale Umfeld für ihre aufbrandende Liebe zur Musik. Vor dem Hintergrund ihres jugendlichen Bildungshungers lässt sich ihr lebenslanges kulturelles Engagement unschwer nachvollziehen. Die kulturgeschichtliche Einbettung ihrer Vita offeriert der Autor mit viel Liebe zum Detail: Mutmaßungen zu der Schule, die das junge Mädchen besucht haben könnte, ein Exkurs zum Leipziger Zoo und seinen diversen gesellschaftlichen Attraktionen, die sie regelmäßig aufgesucht haben dürfte, biographische Skizzen zu den Künstlerinnen und Künstlern, von denen sie sich Autogramme geben ließ, reichen weit über einen nachweisbaren Einfluss auf Emmy Rubensohn bzw. Frank hinaus und erhellen das geistige Klima, in dem sie sich als Vertreterin eines assimilierten, wohlsituierten und bildungsbürgerlich geprägten deutschen Judentums bewegte.
Auszüge aus Briefwechseln, aus ihrem Gästebuch und aus Erinnerungen von Familienmitgliedern und Freunden zeugen davon, wie das Ehepaar Rubensohn sodann in Kassel sein Heim zum Zentrum künstlerischer Kontakte machte. Beispielsweise ermöglichte Emmy Rubensohn dem jungen Ernst Krenek, während seiner Arbeit für das Kasseler Opernhaus kostenfrei bei ihnen zu wohnen. Die lebenslange Freundschaft schlug sich auch in Kreneks Schaffen nieder – so wie es Emmy Rubensohn offenbar auch sonst gelang, die kreative Seite ihrer musikalischen Freundinnen und Freunde zu unterstützen und zu inspirieren.
Eingefügte Themenseiten (z. B. zu den jüdischen Gemeinden in Leipzig und Kassel oder zu Nichte und Neffe, die für die kinderlose Emmy Rubensohn zu Ersatz-Kindern wurden), ein ausführliches Kapitel zum Jüdischen Kulturbund in Kassel, dazu an jedem Kapitelende unkommentierte Textdokumente zum jeweils zentralen Thema des vorausgegangenen Abschnitts erweitern das Blickfeld. Vor allem die Seiten zum Exil in Shanghai dürften für musikwissenschaftlich interessierte Leser:innen viel Neues bieten und zeugen von einem immensen Willen, sich selbst und die bislang gelebten Ideale nicht aufzugeben.
Leider fehlt ein Vor- oder Nachwort, das etwas zum Hintergrund des Buches verriete; der Klappentext bleibt für diesen Zweck zu knapp. Die Entscheidung, den Text auf der linken Seite auf Deutsch, auf der rechten Seite auf Englisch zu drucken, macht bei einer Exilbiographie durchaus Sinn. (Ob es auch Pläne zu einem chinesischen Teil gab?) Ein Problem ergibt sich allerdings bei den Bildlegenden: Sie erscheinen nur jeweils in der Sprache ihrer Abbildungsseite. Wenn der Band hierfür also eine zweisprachige Klientel voraussetzt, ist das eigentlich ein Widerspruch zur durchgehenden Zweisprachigkeit des Fließtextes.
Der deutsche Text ist mit Sympathie und erkennbarem persönlichem Engagement geschrieben – und keineswegs im sterilen Wissenschaftstonfall. Das passt zum Thema und ist durchaus angebracht, weil es neben der individuellen Biographie auch das allgemeine kulturelle Klima der Zeit lesenswert aufbereitet. Ein gründliches sprachliches und stilistisches Lektorat hätte dem Buch dennoch gutgetan. Die Lektüre wird zu häufig getrübt durch sachliche Fehler (die Familienübersicht S. 15 ist eindeutig keine „Chronik“), unreflektierte Wortwahl und unnötige Anglizismen (warum auf S. 28 „Subtitel“ und nicht „Untertitel“?), schlichtweg überflüssige Dopplungen („Weil ihr Vater, der Mediziner Alfred Frank, […] seine Tätigkeit ins Ausland verlegen will (er ist Mediziner)“, S. 98) und mehrzeilig mäandernde Satzungetüme. Daraus ergeben sich semantische Fragwürdigkeiten („Der Eindruck des Fluchtartigen verstärkt sich weiterhin durch gleichfalls unsystematisch eingeklebte Fotos“, S. 32: gemeint ist in diesem Kontext keinerlei Flucht, sondern der Eindruck mangelnder Sorgfalt und Eile – der sich nicht durch die Fotos verstärkt, sondern durch das Unsystematische ihrer Anordnung und Auswahl). Ein Lektorat hätte vielleicht auch Formulierungen bereinigt, die sich in der Stilhöhe gründlich vertun: „Eine besondere Aura eignet [!] auch dem folgenden Event [?] an [sic]“ (S. 344). Ob der englische Text kohärenter ist?
Der Band wurde gedruckt mit Unterstützung der Universität Siegen, des Gewandhausorchesters und der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig, des Themenjahrs 2021 Jüdisches Leben in Deutschland, des ernst krenek instituts; außerdem lässt sich das Logo von Reinwald (einer Abbruch-GmbH in Sachsen) und fritz! (weiße Schrift auf rotem Quadrat, mehr ist in der Miniaturversion nicht lesbar) erkennen. Diese ansehnliche Liste von Geldgebern zeugen davon, dass selbst die beste Forschung heute kein Wert per se mehr ist: Sie muss auch finanziert werden, und das kostet viel Zeit und Energie … Man darf dem Verfasser dankbar sein, dass er diese nicht gescheut hat. In seiner Publikation über Emmy Rubensohn kann man immer wieder blättern und sich Anregungen holen für die Beschäftigung mit Kultur und Leben in der ersten Hälfte des 20. Jh. Und ganz nebenbei bestätigt das Werk, wie wichtig es ist, sich mit exemplarischen Frauenbiographien zu beschäftigen: Emmy Rubensohns Leben zeigt, wie eine in ihrer Kindheit durch Kultur, Bildung und Eigeninitiative stark gewordene Frau im förderlichen Familienzusammenhalt Kraft gewinnt und Kraft weitergeben kann, auch wenn das Leben plötzlich wegbricht. Der Vorbildcharakter solcher Netzwerke in Musik und Freundschaften beschränkt sich nicht auf die Vergangenheit.
Kadja Grönke
Oldenburg, 28.08.2022