Scherben. Musik, Politik und Wirkung der Ton Steine Scherben / Hrsg. von Wolfgang Seidel. Neuaufl. – Mainz: Ventil, 2020. – 267 S.: Abb.
ISBN 978-3-95575-052-7 : € 18,00 (kt.)
Wenn wirklich nichts als Scherben übriggeblieben sein sollten von dieser ersten Drei-Worte-Namen-Band, so ist es doch einer der schönsten und erinnerungswerten Scherbenhaufen der musikalischen Popgeschichte. Gerade für jemanden, der nicht eigentlich zur Szene gehörte und nie ein Popkonzert besuchte, sondern nur damals wie heute von den sozialromantischen und frechen Klängen der Band auf ihrem Album Keine Macht für niemand fasziniert war und ist, erscheint so ein dokumentarisches Erinnerungsbuch, das jetzt zum 50. Jubiläum von Ton Steine Scherben wieder aufgelegt wurde, ganz instruktiv und angenehm, ganz jenseits von kultischem Fan-Verhalten. Obwohl die Band damals auch in bürgerlich-alternativen Kreisen (noch bevor auch das Wort Alternative von rechts missbraucht und entwürdigt wurde) Sympathien weckte und ihr begnadeter Sänger Rio Reiser sich später als Solist gerne zum anarchistisch-aristokratischen „König von Deutschland“ ausgerufen hätte, bleibt die Parole, dass es keine Macht für niemanden geben solle, der substantielle und subkulturelle Kern dieser politisierten Musik für Leute, die auch den linken Willen zur Macht verabscheuen und eine demokratische Pflicht zur Ausübung von Macht von einem herrschaftsfreien Gesellschaftstraum her anzweifeln.
Das Buch erschien zuerst zu einer Zeit (2005), als die Landkommune im nordfriesischen Fresenhagen schon oder noch ein Scherben-Museum war und das Grab von Rio Reiser noch in deren Garten lag. Heute ist das Grundstück verkauft und Reiser wurde auf den Berliner St.-Matthäus-Friedhof umgebettet. Aber das alte Kreuzberger Bandmitglied Wolfgang Seidel hat unter dem Stoßseufzer-Titel „Noch ein Jubiläum…“ ein neues Vorwort beigesteuert und klargestellt, wie unzeitgemäß eigentlich „die Scherben“ stets waren. Zwischen protestierenden Jugendlichen, die raus wollten aus dem spießigen Mief der Wohlstandsgesellschaft und ehrgeizigen Arbeitern, zwischen Beat, Blues und Rock und dem aufkommenden Deutsch-Rock und Punk groß geworden, waren sie gesellschaftlich und musikalisch, was die Moden betrifft, anachronistisch und deplatziert. Schon vor 15 Jahren war dies Buch nicht als eins für Veteranen des musikalischen Straßenkampfs von einst erschienen, obwohl viele Musiker und Organisatoren hier zu Wort kamen und ein großer Bilderbogen albumhaft entfaltet wurde. Es ging nicht um stolze Erinnerungen und sentimentale Reminiszenzen, sondern um Vergegenwärtigung einer zwar unwiederbringlich vergangenen Musikszene, aber einer mit politischen Ansprüchen, die nie von gestern sein können, weil ihr utopischer Kern stets in eine Zukunft gerichtet bleiben wird: man muss die totale Freiheit nur denken wollen, um wenigstens das unter Menschen Mögliche von ihr verwirklichen zu können. Was damals nur zeitbedingter Stil und Geschmack war, ist historisierbar, aber der Impetus einer politisch eingreifenden Popularmusik jenseits der Stile und Geschmäcker ist permanent aktualisierbar, und so bleiben uns die Anarcho-Evergreens, als wären sie von heute.
Aber als man anfing, süßliche Cover-Version von Reiser-Songs für die Deutschpop-Industrie zu machen, war eigentlich schon alles vorbei, noch Schlimmeres setzte ein, wie die Übernahme von Scherben-Songs durch die rechte Szene, die sich neuerdings staatsfeindlich gibt und als nationale Linke tarnt. Die aktuellen politischen Konstellationen beanspruchten schon damals einen nicht unerheblichen Teil des Buches und man musste sich mit erneuten Revisionen der deutschen Geschichte befassen. Wolfgang Seidel als der eigentliche Historiker der Band und andere verteidigen den gesellschaftskritischen Anspruch von links, für den die unerträgliche Grenze weiterhin zwischen oben und unten verläuft und der Weg ins Paradies ganz gewiss nicht über eine wieder erlangte nationale Identität, über ein Land, in dem es nichts Zweites, nichts Anderes, nichts Fremdes geben darf. Die Entscheidung für die deutsche Sprache diente den Scherben nur zur unmittelbaren Verständlichkeit, als Vehikel für Veränderungen.
Der Sammelband ist ziemlich buntscheckig zusammengestellt, soziologische Referate (Jimmy Boyle, Kritik der Konsumkritik), wechseln sich mit persönlichen Erinnerungen und Interviews ab, auch mit Mitgliedern anderer Bands als Erben der Scherben wie „Carambolage“ (Tiene Piesch) oder den Verweigerern von „Mekanïk Desrüktïw Komandöh“ (Volker Hauptvogel & Dietmar Kirves) oder mit Françoise Cactus. Schon damals befasste sich Robert Kneschke mit der Frage „warum die Scherben immer noch junge Menschen inspirieren und deshalb sogar Webseiten entstehen“ – das soll noch lange so bleiben! Wir warten immer noch auf das Land, in dem das Wort Freiheit Wirklichkeit wird und reagieren so wie damals die aufbruchbereiten Jugendlichen in der DDR, die ein Jahr vor dem Zusammenbruch der SED-Herrschaft Rio Reiser das Echo seiner eigenen Worte zuriefen, vielmehr aus dem Mund nahmen: „Dieses Land ist es nicht!“
Inhaltsverzeichnis
Peter Sühring
Bornheim, 27.07.2020