Bick, Martina: Musikerinnen in der Familie Mendelssohn – Berlin: Hentrich & Hentrich, 2017. – 78 S.: Abb. (Jüdische Miniaturen ; 202)
ISBN 978-3-95565-196-1 : € 8,90 (kt.)
Dass neben dem berühmten männlichen Spross der Mendelssohns, Felix, noch seine musikalisch sehr produktive ältere Schwester Fanny existierte, hat sich inzwischen herumgesprochen – auch sie hat bereits einen gebührenden Grad an Bekanntheit erzielt und ihre Kompositionen werden zuweilen gespielt. Dass aber auch die Mutter Lea geb. Salomon und die Großmutter Bella Salomon geb. Itzig sowie die Großtante Sara Levy geb. Itzig sehr musikaffin waren ‑ so sehr, dass sich die musikalische Entwicklung von Fanny und Felix im Hause Mendelssohn ohne sie gar nicht recht denken ließe, ist weniger bekannt. Selbst eine Biografie des Mannes Felix könnte, ohne sie gebührend zu berücksichtigen, gar nicht geschrieben werden, denn sein wirksames familiäres musikalisches Umfeld in den ersten 15 Jahren seines Lebens war vornehmlich weiblich. Aber auch unabhängig von Felix, hinter dem diese Frauen bis heute zurückstehen müssen, war ihre Bedeutung für das Berliner Musikleben des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts nicht unerheblich, sondern eher prägend gewesen ‑ und zwar nicht nur hinter den Kulissen. Alles, was man mindestens darüber und über jede einzelne dieser Frauen wissen sollte, ist nun in einem Bändchen der Jüdischen Miniaturen aus dem Berliner Hentrich&Hentrich-Verlag bündig von Martina Bick, einer in Hamburg lebenden Musikwissenschaftlerin und Romanautorin, zusammengefasst worden. Nach einem Vorspann über die frühen Hamburger Jahre von Abraham und Lea Mendelssohn folgen die Kurzporträts von fünf Frauen dreier Generationen, wobei die beiden ältesten aus dem Hause Itzig stammenden, verheirateten Salomon resp. Levy ursprünglich mit der Familie Mendelssohn nichts zu tun hatten.
Fannys und Felixens Großmutter mütterlicherseits, jene Bella Salomon (1749‑1824), erwartete von ihren Kindern (auch und gerade von ihrer mit dem Moses-Mendelssohn- und Fromet Guggenheim-Sohn Abraham verheirateten Tochter Lea) und ihren Enkeln nicht nur einen Verbleib im aufgeklärten Judentum (worin sie bitter enttäuscht wurde), sondern auch die bildungsmäßige Akkulturation an die deutsche Kultur, besonders an die Musik ‑ worin sie mehr als zufriedengestellt werden konnte. Schon im Hause Itzig, aus dem sie kam, wurde viel musiziert, Johann Friedrich Reichardt berichtete darüber, Bella wurde von dem Bach-Schüler Kirnberger ausgebildet und war eine der Vertreterinnen des Berliner Bach-Kults. Sie besaß eine Abschrift der Bachschen Matthäuspassion, die sie ein Jahr vor ihrem Tod ihrem Enkel Felix schenkte ‑ die Folgen dieser Schenkung sind bekannt. Auch, dass diese Abschrift wiederum von jener Originalhandschrift genommen worden war, die Abraham Mendelssohn von der Tochter Emanuel Bachs in Hamburg erworben und dem Notenarchiv der Berliner Singakademie vermacht hatte, wird hier erzählt. Warum diese Geschichte nicht dort erzählt wird, wo sie hingehört, sondern in dem folgenden Abschnitt über ihre Schwester Sara, ist nicht recht erfindlich. Sara Levy (1761‑1854) stand etwas mehr im Bereich öffentlichen Interesses, sie war eine von dem Bach-Sohn Friedemann ausgebildete hervorragende Cembalistin, unterhielt einen musikalischen Salon und eine der größten Musikaliensammlungen, von denen das Archiv der Singakademie zu Berlin noch heute zehrt. Durch ihr extrem langes Leben überlebte sie von den Mendelssohns nicht nur ihre Nichte Lea und deren Mann Abraham, sondern von deren Kindern auch Fanny und Felix Mendelssohn.
Die musikalische Ausbildung der Mutter von Fanny und Felix, von Lea Mendelssohn geb. Salomon von bisher unbekannter Hand muss so gut gewesen sein, dass sie selbst wiederum die erste Klavier- und Musiklehrerin ihrer Kinder werden konnte, bevor sie die weitere Ausbildung in die professionellen Hände von Ludwig Berger und Karl Friedrich Zelter legte. Auch ihre brieflichen Mitteilungen über die frühen Kompositionen von Felix und Fanny lesen sich so fachkundig, dass ihnen heute aus musikwissenschaftlicher Sicht kaum noch etwas hinzuzufügen wäre. Quellenmäßig werden hier von der Autorin auch die kritischen Äußerungen Lea Mendelssohns zu bestimmten in ihren Augen barbarischen Riten der mosaischen Religion erschlossen, die erhellen, warum sie besonders ihre Söhne Felix und Paul nicht nach den jüdischen Ritualgesetzen erzogen wissen wollte und sich selbst mit ihrem Mann, Jahre nach ihren Kindern, christlich taufen ließ. Als Konversion, als Übertritt von einer Religion zur anderen, kann man diesen Vorgang wohl kaum bezeichnen ‑ was für alle Mendelssohns seit der Generation von Abraham gilt.
Im Zentrum der Darstellung der musikalischen und musizierenden Frauen der Mendelssohns muss natürlich Fanny Hensel geb. Mendelssohn stehen. Nicht nur wegen ihrer engen und lebenslangen Beziehung und beratenden Rolle gegenüber ihrem öffentlich als Komponist, Pianist und Dirigent agierenden Bruder Felix, sondern weil sie selbst bis zu ihrem plötzlichen frühen Tod im Jahr 1847 eine hervorragende, halböffentlich im Rahmen der Mendelssohnschen Sonntagskonzerte wirkende Komponistin und Konzertveranstalterin war. Dass Vater und Bruder ihr die Rolle einer komponierenden Frau nicht zubilligen wollten, zeigt, dass auch sie beide trotz aller Aufgeklärtheit nicht über ihren patriarchalischen Schatten springen konnten. Bick erzählt anschaulich von den Freuden und Nöten dieser begabten und gebeutelten Künstlerin, von ihren Klavier- und Liedkompositionen und gibt Einblick in das Berliner Musikleben der 1830er und -40er Jahre, in dem Fanny Hensel eine treibende Kraft war.
Am wenigsten kann man wegen der spärlichen Quellenlage über die Schwester Rebecka erfahren, obwohl die Andeutungen neugierig machen und man ahnt, dass sie ein energischer Charakter war und in musikalischen und politischen Dingen zu rigorosen vormärzlichen Ansichten neigte, die sie auch im Nachmärz nicht bereit war einfach abzulegen.
Die Autorin erzählt alle diese Dinge in einem flüssigen Stil und stichhaltig. Abgesehen von kleineren Unstimmigkeiten in den Anmerkungen (z.B. würde man in der Anm. 7 eher einen Verweis auf das Buch von Adolf Weissmann über das Berliner Musikleben erwarten als den Hinweis „Ebd.“, der zu der vorherigen Anmerkung nicht recht passen will), ist alles gut aus Primär- und zuverlässigen Sekundärquellen heraus entwickelt und nachgewiesen. Sogar die Rede vom „förmlichen Sebastian und Emanuel Bach-Kultus“ im Hause Itzig wird hier nicht Reichardt, sondern richtigerweise Weissmann zugeschrieben und somit eine kursierende Fehlinformation stillschweigend korrigiert.
Porträts, Familienstammbaum, Stadtpläne und -ansichten sowie Notenblätter und -drucke ergänzen das Erzählte durch markante visuelle Eindrücke.
Peter Sühring
Bornheim, 17.05.2018
Vom Rezensenten erscheint Ende August in derselben Reihe als Band 227 der Jüdischen Miniaturen Felix Mendelssohn. Der (un)vollendete Tonkünstler [Anm. d. Red.]