Der russische Pianist Andrej Hoteev. Zwischen zwei Welten / Hrsg. von Gabriele Helbig – Düsseldorf: Staccato, 2017 – 244 S.: s/w-Abb., Personenreg., Diskografie u.a.
ISBN 978-3-932976-70-4 : € 22,00 (brosch.)
Der Name des Pianisten Andrej Hoteev dürfte vermutlich einem eher kleineren Kreis von Musikfreunden bekannt sein, und die meisten seiner Aufnahmen stammen wohl nicht von ungefähr aus den letzten Jahren. Dabei war Hoteevs ganzes Dasein durch das Klavier bestimmt, beginnend mit erstem Unterricht im Alter von fünf Jahren. Dieses Instrument „wirkte für mich wie ein Magnet“, heißt es auf S. 18 des Buches Zwischen zwei Welten, welches aus Gesprächen mit der Musikjournalistin und Bibliothekarin Gabriele Helbig hervorgegangen ist. Die biografischen Schilderungen sind durchaus umfänglich, aber der Lebensbericht ist doch besonders stark geprägt von künstlerischen Bekenntnissen und Schilderungen über die Beziehung zu Lehrern und Musikerkollegen. Dem aufs leidenschaftlichste adorierten Swjatoslaw Richter sind gleich 42 Seiten gewidmet, dem zunächst durch Plattenaufnahmen (nicht zuletzt der Sinfonien von Dmitri Schostakowitsch) bekannt geworden, später freundschaftlich verbundenen Dirigenten Bernard Haitink 26, der Sängerin Anja Silja, die sich in ihrer Spätkarriere mit Andrej Hoteev russisches Liedgut erarbeitete, 22.
Seit 1993 lebt der 1946 geborene Künstler mit seiner Familie in Hamburg. Damals machte er auch seine erste Europa-Tournee und die erste Plattenaufnahme mit Peter Tschaikowskys drittem Klavierkonzert. Diesem Werk, das er im Rahmen einer Edition mit sämtlichen Klavierwerken des Komponisten später nochmals einspielte, ist ein eigenes Buchkapitel gewidmet, welches das kompromisslose Bemühen des Pianisten um Werkauthentizität nachdrücklich beleuchtet. Lange kannte man dieses Werk nur mit Kürzungen (durch den Tschaikowsky-Freund Alexander Siloti) oder gar nur mit seinem ersten Satz (die anderen hatte Sergej Tanejew in seiner Druckfassung eliminiert). Andrej Hoteev gelang in mühevoller Forschungsarbeit die Rekonstruktion des Originals. Auch Fehler bei anderen Werken bereinigte er, etwa bei Modest Mussorgskys Bilder einer Ausstellung, deren radikal in die Moderne weisenden Klangvorstellungen von Zeitgenossen als kompositorisches Unvermögen ausgelegt und deswegen verschlimmbessert wurden. In Andrej Hoteevs Aufnahme von 2013 werden die Korrekturen durch Notenbeispiele im Booklet auch visuell einsichtig gemacht. Die Begleitung von Sängern ist für den Pianisten nota bene nicht nur eine sekundäre Beschäftigung. Für das Vokale war er als Schaljapin-Bewunderer schon immer aufgeschlossen. In seinem Spiel versucht er der menschlichen Stimme und ihren emotionalen Vibrationen nahe zu kommen. So lag ihm der breit gestreute Moskauer Konservatoriumsunterricht auch entschieden mehr als die akademische Unterrichtsästhetik in Leningrad.
Der Buchtitel verdient besondere Aufmerksamkeit. Andrej Hoteev wuchs in einem von westlichen Lebensverhältnissen abgekapselten Land auf, empfand die politischen Drangsalierungen als Einschränkung von Lebensqualität. Durch Andrej Hoteevs Buch lernt man also auch viel über die (wirklich komplett überwundene?) Scheuklappigkeit des sich weltbeglückend gerierenden Sozialismus, in dem privates Glück zu verdorren drohte.
Christoph Zimmermann
Köln, 09.11.2017