Hervier, Grégoire: Vintage. Roman / Aus dem Franz. von Alexandra Baisch und Stefanie Jacobs. – Zürich: Diogenes, 2017. – 391 S.
ISBN 978-3-257-07002-6 : € 20,99 (geb.; auch als e-book)
Verpackt in einen kriminalistischen Roadtrip mit einem Hang zu okkulten Details ist dieser neue und uneingeschränkt empfehlenswerte Roman von Grégoire Hervier vor allem eines: ein kenntnisreicher und nostalgischer Rückblick auf die Gründungsmythen der Rockmusik. Und damit gleichzeitig eine Hommage an jeden Herzblutmusiker, der mutig genug war, seine Gitarre vom Teufel stimmen zu lassen. Die Ausgangslage ist dabei schnell skizziert: Der junge Pariser Journalist und Musiker Thomas, dessen Liebe dem klassischen Gitarrenrock gehört, jobbt in einem Geschäft für Vintage-Gitarren. Als er mit der Übergabe eines wertvollen Instruments an einen schottischen Lord betraut wird, bietet sich ihm eine interessante Perspektive. Dem britischen Edelmann, einem Sammler historischer Gitarren, ist ein äußerst seltenes Instrument gestohlen worden. Um zumindest den Versicherungsschaden regulieren zu können, muss Thomas den Nachweis erbringen, dass diese Gitarre tatsächlich existiert hat. Ausgestattet mit der Kreditkarte seines Auftraggebers und mit der Aussicht auf eine hohe Belohnung macht Thomas sich auf den Weg um die halbe Welt, fliegt erst nach Australien und danach in die Vereinigten Staaten, wo er – stilsicher in einem 1965er Mustang – eine abenteuerliche und gefährliche Reise durch den Süden der USA beginnt.
Auf die vielen gleichermaßen amüsanten und skurrilen Einzelheiten der Handlung einzugehen oder gar das Ende zu verraten, verbietet sich von selbst. Trotzdem ist ein gewisses Maß an Hintergrundwissen unentbehrlich. Denn dass ein Journalist die Existenz einer Gitarre beweisen soll, klingt zunächst recht unwahrscheinlich. Doch gibt es sie tatsächlich, die großen Mythen der Musikgeschichte, deren Echtheit durch die Fan-Gemeinde nicht weniger ernsthaft diskutiert wird als die Debatte um das Turiner Grabtuch. Das 1967er Smile-Album der Beach Boys gehörte lange Zeit ebenso zu diesen Überlieferungen wie die legendäre Tonwalze, auf der Buddy Boldens Tiger Rag von 1904 konserviert sein soll (und die 2013 von Nicholas Christopher literarisch zum Klingen gebracht wurde). Der Autor Hervier hat sich für Vintage eines weiteren Mythos‘ bedient (der für Gitarrenfreaks bereits auf schön gestalteten Cover offensichtlich wird). Mitte der 1950er Jahre leisteten sich die beiden US-amerikanischen Gitarrenbauer Fender und Gibson einen harten Konkurrenzkampf. Einer von Gibsons Versuchen, Marktanteile wett zu machen, war die Konstruktion einer neuen, sehr modern gestalteten Modellreihe. Neben der „Flying V“ und der „Explorer-Futura“ konstruierte Gibson die „Moderne“. Alle drei Modelle waren ihrer Zeit stilistisch so weit voraus, dass zunächst nur wenige Käufer den Mut aufbrachten, sich eine solche Gitarre zuzulegen. Die „Moderne“ wurde sogar überhaupt nicht in Serie produziert und es gibt bis heute keinen Nachweis, ob überhaupt ein Prototyp angefertigt wurde. Erst Jahrzehnte später wurde das zukunftsweisende Design mit einer Neuauflage belohnt und die Gitarre zählt heute zum Standard-Equipment jeder anständigen Hard Rock- und Heavy Metal-Band.
Um eben diese Ungewissheit, ob es tatsächlich eine 1957er „Gibson Moderne“ gegeben hat, baut Grégoire Hervier sein literarisches Roadmovie. Gespickt mit kenntnisreichen Details über historische Gitarren, deren unterschiedlichen Klangräume, biographische Informationen zu Musikern, Produzenten und Instrumentenbauern öffnet sich dem Leser die faszinierende Welt der klassischen Rockmusik. Herviers Held schwelgt in Betrachtungen über die erlesensten Instrumente von Gibson, Fender oder Gretsch, schraubt mit kriminalistischem Eifer Gitarren auf, um deren Provenienz zu klären, und beeindruckt durch sein enzyklopädisches Wissen. Dies könnte durchaus ermüdend sein, würde der Autor nicht eine zweite Ebene in seine Handlung einbauen. Ab einem gewissen Zeitpunkt ist die Jagd nach der Gitarre zweitrangig, hat Thomas doch eine Schallplattenaufnahme aus den 1950er Jahren entdeckt, die ihm in faszinierender Weise die Verbindung zwischen den ersten Bluesmusikern und den großen anglo-amerikanischen Rockbands verdeutlicht. Dem Urheber dieser Aufnahme, einem völlig unbekannten Musiker, sind produktionstechnische Raffinessen und Sounds gelungen, die erst Jahre später zum Instrumentarium von Musikern und Produzenten gehören sollten. Nun ist es die Suche nach weiteren Tondokumenten und biografischen Einzelheiten ihres Schöpfers, die Thomas antreibt.
Dass dieser mysteriöse Li Grand Zombi Robertson und sein zukunftsweisendes Stück Song to rest in hell eine Erfindung von Hervier sind, ist letztlich irrelevant. Denn weitaus wichtiger als die historische Wahrheit ist, dass es dem Autor gelingt, dem Leser seine Begeisterung über das sich entfaltende Netzwerk an zeitlichen und stilistischen Verbindungen zwischen Epochen und Musikern zu vermitteln. Das tröstet auch über den Umstand hinweg, dass der Autor die hohe Schlagzahl seines Romans nicht bis zum Outro konsequent aufrechterhalten kann. Mag der Schlussakkord auch etwas zu lieblich ausgefallen sein, so bleiben dem Leser die knackigen Riffs und komplexen Strukturen der Strophen und Refrains noch lange in Erinnerung.
Michael Stapper
München, 29.10.2017