Georg Kreisler: Letzte Lieder. Autobiografie

Kreisler, Georg: Letzte Lieder. Autobiografie. – Zürich: Arche, 2009. – 156 S.
ISBN 978-3-7160-2613-7 : € 19,90 (geb.)

Altbundespräsident Richard von Weizsäcker meinte neulich, an seinem 90. Geburtstag: Zum Sammeln seiner Erinnerungen und zum Ziehen einer Bilanz sei es für ihn noch zu früh. Da kann er sich von dem fast 90-jährigen Georg Kreisler (*1922) vorab belehren lassen: „Je mehr ich versuche, Bilanz zu ziehen, um so deutlicher erkenne ich, dass es keine Bilanz gibt“ (S. 154). Und schon der Untertitel „Autobiografie“ ist a bisserl übertrieben, wenn nicht absichtlich irreführend. Wir haben es hier mit einigen der schönsten und dazu neuen (letzten wohl eher nicht) Gedichten des Sprachkünstlers Kreisler zu tun, die er mit einigen Episoden aus seinem Bühnenleben und Ansichten zum Leben im Allgemeinen und zu dem eines jüdischen Künstlers in Österreich, den USA, Deutschland und der Schweiz im Besonderen ausgeschmückt hat. Er, der Kabarettist wurde, obwohl er das Kabarett, insbesondere das Wiener, nicht leiden kann, hat da einiges zu sagen. Und was er in seinen über 500 Liedern, 15 Theaterstücken, zwei Opern, drei Romanen und etlichen Sketches, Monologen, Artikeln und Gedichten noch nicht gesagt hat, das sagt er hier. Er ist der schwarzhumorige Mann am Klavier mit der viel zu großen schwarzen Brille und den geschniegelten Haaren, der äußerlich adrett und gut getarnt dem mitteleuropäischen Nachkriegsspießer das Gruseln lehrte. Hochmusikalisch und wegen des Weltlaufs sarkastisch veranlagt, hat er bis jetzt schon ein umfangreiches Werk angehäuft, das schwer zu fassen ist. Eigentlich hatte er, verglichen mit den aufgebauten und gemanagten Stars, wenig Erfolg, dafür aber, umgekehrt wie sein Bruder im Geiste, Tucholsky, umso mehr Wirkung. Verbittert wie Frederick Loewe (My fair lady) ist er jedenfalls nicht, dazu ist ihm der Erfolg zu unwichtig.
Die Kunst fordert den ganzen Menschen, und ihr Lohn ist Erkenntnis und Einsamkeit. Man will nicht einsam sein, und es gibt Wichtigeres.“ (S. 111) „Die Entdeckung, dass die Kunst versucht, uns die Wirklichkeit plausibel zu machen, ist etwas Grandioses. Damit ist mein Leben eigentlich schon erzählt.“ (S. 6) „Mit der Zeit bin ich dann alt und glücklich geworden.“ Mit diesen Bekenntnissen einer unsentimentalen Künstlerseele reißt Kreisler ganze Legenden über sich und die Rolle der Kunst herunter. Er hat viel geschauspielert, aber in Wirklichkeit ist er ein ernster Schriftsteller, der sich gerne zurückzieht, die Klassiker aus Poesie und Musik liest und hört und die heutige Welt ziemlich blöde findet und sich freut, sich nicht mehr mit dummen und intriganten Intendanten und Kritikern herumschlagen zu müssen.
Phänomenal, was er über den Unterschied von Religion haben und an Gott glauben zu sagen weiß, über Richard Wagners oder Martin Walsers Sprachschund, über die Blüten eines immer verkorkster werdenden Antisemitismus (man lese seine Parodie auf Max Frisch: Sodom und Andorra) und über das aufregende und ermüdende Leben „in Spelunken, Opernhäusern, noblen Nachtlokalen, auf Riesenbühnen, Kabarettbühnen, Kleinbühnen, in Konzertsälen, Schauspieltheatern, auf Privatpartys, in Wirtshäusern und anderen Lokalitäten“ (S. 155). Dieser Mann lässt sich nicht regieren, aber er hat eine innere Regierung, das künstlerische Gewissen – aber das fände er sicher auch wieder a bisserl übertrieben.

Peter Sühring
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 31 (2010), S

 

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