Herman van Veen: Erinnerte Tage [Michael Stapper]

van Veen, Herman: Erinnerte Tage. Aus dem Niederländ. von Thomas Woitkewitsch. – München: Knaur, 2016. – 302 S., zahlr. s/w-Fotos (Originaltitel: Herinnerde dagen)
ISBN 978-3-426-21408-4 : € 19,99 (geb.)

Fangen wir mit Thomas Woitkewitsch an. Ein Glück, dass es ihn gibt. Thomas Woitkewitsch? Alfred Biolek wüsste, von wem hier die Rede ist. Schließlich waren es der Fernsehunterhalter und eben jener Woitkewitsch, zur damaligen Zeit Redakteur beim WDR, die den niederländischen Sänger und Geiger Herman van Veen Anfang der 1970er Jahre für das deutsche Publikum entdeckten. Doch dabei blieb es nicht. Thomas Woitkewitsch übersetzte seitdem einen Großteil der Texte van Veens ins Deutsche und ist somit mitverantwortlich dafür, dass wir auch hierzulande ein zärtliches Gefühl für den Fratz aus Utrecht entwickelt haben. Folgerichtig war es deshalb von van Veen, seinen literarischen Weggefährten mit der Übersetzung seiner Herinnerde dagen zu beauftragen. Womit wir wieder beim Glück wären. Es gibt wohl nur wenige Menschen, denen es gelingt, van Veens poetische Sprache außerhalb eines Liedtextes so passgenau zu verwandeln, dass in der Vorstellung des Lesers Autor und Übersetzer zu einer Person verschmelzen. So ist es durchaus als Danksagung des Niederländers zu verstehen, wenn er seinen Übersetzer im Fließtext namentlich erwähnt (S. 169).
Zunächst einmal haben Herman van Veens Erinnerungen (die der ersten, im Jahr 2010 veröffentlichten Lebenserinnerung Bevor ich es vergesse nachfolgen) genau die Ingredienzien, die von einer ordentlichen Autobiografie erwartet werden können. Geschichten aus der Kindheit, Fotos der Eltern, Reproduktionen von Konzertplakaten, Skurriles aus dem weit verzweigten Verwandtenkreis, gesellschaftspolitische Geständnisse. Wir begleiten den angehenden Musiker ans Konservatorium, zur Musterung, ins Varieté, an die Berliner Mauer, staunen über den wirtschaftlichen Erfolg von Alfred Jodocus Quak und verdrücken eine Träne in Gedenken an van Veens längstjährigen Pianisten Erik van der Wurff. So gesehen könnte man die vorliegenden Erinnerungen mit dem gleichen Recht als Autobiografie bezeichnen, mit dem ein Auftritt van Veens als Konzert verstanden werden kann. Doch in beiden Fällen sind die Begriffe nur Annäherungen. Mit derselben Hingabe, mit der van Veen in Konzerten vom albernen Klamauk über musikalische Virtuosität zu tiefgründiger Poesie wechselt und damit die weit verbreitete Formel dramaturgischer Aufführungspraxis negiert, überrascht er auch in seiner Publikation den Leser immer wieder aufs Neue. Kurz sind die Kapitel, manche nur zwei Seiten lang. Gedichte und Liedtexte werden ausladend zitiert, dazwischen immer wieder Briefe von und an Herman van Veen. Chronologische und fließende Erzählstrukturen interessieren den Autor wenig. Er springt durch die Jahrzehnte, verknüpft Momente und Eindrücke, die viele Jahre auseinander liegen, reißt Themen nur kurz an, geht bei anderen ins Detail. Dabei bleibt er immer poetisch, ehrlich, nachdenklich, milde provokativ. Wie man es von van Veen gewohnt ist, hat dieser auch keine Angst vor deftigen Ausdrücken. Von seinem „Pimmel“ lesen wir ebenso wie vom „Kacken“ und immer hören wir im Unterbewusstsein die niederländische Sprachfärbung mit, die den Begriffen ihre Drastik und Schärfe nehmen. Aber niemals so viel, als dass man sich verleiten ließe zu glauben, van Veen wüsste nicht um ihre Wirkung. Wie in seinem Bühnenleben auch liebt van Veen die Überraschung, die jedoch nicht immer positiver Natur ist. Wenn er beschreibt, wie er auf der Suche nach erotischer Literatur im Bücherschrank der Eltern auf eine Publikation mit Bildern über die Verbrechen im Weltkrieg stößt, dann führt van Veen den Leser nicht nur auf das Glatteis, sondern lässt ihn plötzlich einbrechen (S. 106f).
In einem Brief an Herman van Veen aus dem Jahr 1967 schreibt der niederländische Musiker und Kabarettist Wim Kan über den jungen Sänger: „Ihr Auftreten hat eine Spannung, und ab und zu eine seltsame Vehemenz, schnell gefolgt von einer Art starken Melancholie“ (S. 145). Diese Wahrnehmung könnte auch heute noch in CD-Rezensionen, Konzertkritiken und Buchbesprechungen als künstlerisches und menschliches Credo stehen. Was ein Glück, dass es van Veen gelungen ist, seine musikalische Begabung nicht nur in Lied-, sondern auch in Fließtexte zu kleiden. Und was für ein Glück, dass Thomas Woitkewitsch mit einer solchen Sprachbegabung gesegnet ist.

Michael Stapper
München, 24.09.2016

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