Bauer, Oswald Georg: Die Geschichte der Bayreuther Festspiele. Band I: 1850–1950; Band II: 1951–2000 – Berlin [u.a.]: Deutscher Kunstverlag, 2016. – 724, 568 S.: Abb.
ISBN 978-3-422-07343-2 : € 128,00 (2 Bde. im Schuber, geb.)
Der Theaterwissenschaftler Oswald Georg Bauer, langjähriger Pressesprecher und rechte Hand Wolfgang Wagners in Bayreuth, hat das Wagnis unternommen, eine bisher schmerzlich empfundene Lücke in der sonst so reichhaltigen Wagner-Literatur zu schließen. In 27-jähriger Arbeit hat er eine weit über tausend Seiten und ebenso viele Abbildungen umfassende Geschichte der Bayreuther Festspiele von 1850 bis 2000 erarbeitet. Bauer hatte vollen Zugang zu den entsprechenden Archiven der Familie Wagner, dehnte seine Nachforschungen aber auch darüber hinaus noch weiter aus.
Der Autor beginnt sein Werk dankenswerterweise nicht mit den ersten Festspielen von 1876, er setzt bereits im Jahr 1850, mit der ersten Erwähnung von Wagners Festspielidee, an und begleitet so das Entstehen dieser gewagten Unternehmung von Beginn an. In der Folge werden jedem Festspieljahrgang umfangreiche Artikel gewidmet. Diese beinhalten ausführliche Informationen über die aktuellen Inszenierungen, besondere Ereignisse während der Festspiele, auch Kritiken und Publikumsreaktionen. Hier kann auch der belesene Wagnerianer noch viele Entdeckungen machen. Die prächtig ausgestatteten zwei Bände im Schuber, in elegantem Taubenblau gehalten, stellen allerdings mit ihrem Gesamtgewicht von über 7 kg eine gewisse physische Herausforderung für weniger athletische Benutzer dar. Speziell der erste, etwas umfangreichere Band will erst einmal bewegt werden. Bauer sieht seine Publikation in erster Linie als Nachschlagewerk. Hier setzt allerdings die Problematik der ganzen Unternehmung ein: das einzige dem Leser zur Verfügung stehende Suchkriterium ist der jeweilige Festspieljahrgang. Man ist mit einem Fließtext von nicht weniger als 1.292 Seiten konfrontiert, für den es weder ein Personen- noch ein Sachregister gibt. So kann man natürlich vielen Fragen nicht nachgehen. In welchen Jahren wurde Tristan und Isolde gegeben? Wann trat Frida Leider erstmals, wann letztmalig bei den Festspielen auf? In welchen Jahren dirigierte Toscanini, in welchen Jahren Richard Strauss auf dem grünen Hügel? Diese und noch unzählige weitere Fragen sind nur durch stundenlanges Blättern und Suchen zu beantworten. Dazu kommt, dass der Autor mit der Nennung von Namen äußerst sparsam umgeht. In den Abhandlungen über die einzelnen Festspieljahrgänge werden jeweils nur die Sänger von Hauptrollen, stellenweise nicht einmal diese genannt. Die Aufführungen der IX. Symphonie Beethovens am Vorabend der Festspiele 1951 und 1963 werden zwar erwähnt, die Namen der Gesangsolisten verschweigt uns Bauer aber.
Vollständig totgeschwiegen werden die seinerzeit Aufsehen erregenden Schallplattenaufnahmen während der Festspiele 1936, bei denen Ausschnitte aus Lohengrin, Walküre und Siegfried in der Originalbesetzung unter Heinz Tietjen eingespielt wurden. Sie sind unter einem speziellen Etikett erschienen und sind bis heute begehrte Sammlerobjekte. Die bei den ersten Nachkriegsfestspielen mitgeschnittenen Aufführungen erwähnt der Autor zwar, allerdings nicht vollständig. So lässt er unerwähnt, dass der Mitschnitt von Beethovens IX. unter Furtwängler geradezu zu einer Ikone der Schallplattengeschichte wurde. Insgesamt würde man sich ein Verzeichnis aller über die Jahre erschienenen Mitschnitte aus dem Festspielhaus wünschen, ihre Zahl ist ja durchaus überschaubar. Ereignisse, wie die dramatische Situation Frida Leiders im Festspielsommer 1938, als sie nach einem Nervenzusammenbruch eine Reihe von Aufführungen absagen musste, bleiben unerwähnt. Lediglich im Bericht 1939 erfährt man, dass nach dem „Ausscheiden“ Frida Leiders Germaine Lubin die Isolde übernahm, die Hitler angeblich schon 1938 in dieser Rolle bewundert hätte – obwohl sie die in Bayreuth gar nicht gesungen hatte. Hier rächt sich, dass dem Buch eine komplette Liste der Besetzungen aller Festspieljahrgänge fehlt. Solche existieren bereits in anderen Publikationen und müssten eigentlich Basis einer Gesamtdarstellung der Festspielgeschichte sein. Im Jahr 1933 sang die später zur führenden Wagner-Heroine aufgestiegene Kirsten Flagstad zwei kleine Partien im Ring des Nibelungen. Unzählige solcher kleiner, aber wichtiger Details bleibt uns der Autor damit schuldig. Dass Kirsten Flagstad dann 1934 als Gutrune in der Götterdämmerung besetzt war, kann man lediglich einer Bildunterschrift entnehmen.
Bauers Verdienst ist kein geringes, allein das Zusammentragen der unzähligen Abbildungen, die damit teilweise zum ersten Mal öffentlich gemacht werden, ist nicht hoch genug einzuschätzen. Der Mut, eine Unternehmung solchen Umfanges zu wagen, verdient höchste Anerkennung. Umso mehr irritiert es, keinen der Materialfülle entsprechenden Apparat zur Nutzung der Bände vorzufinden. Vielleicht ist es einer gewissen „Betriebsblindheit“ nach jahrzehntelanger Arbeit an dem Projekt geschuldet, vielleicht wollte der Verlag ein Ausufern des Gesamtumfanges nicht zulassen. Klug war die Entscheidung jedenfalls nicht. Ein umsichtiger Lektor hätte hier eingreifen müssen, denn ohne die erwähnten Materialien bleibt die Publikation Stückwerk. Alternativ hätten die fehlenden Daten ja beispielsweise auf einer CD-ROM Platz gefunden. Hier besteht, zumindest für künftige Neuauflagen dringender Handlungsbedarf!
Peter Sommeregger
Berlin, 13.08.2016