Krucsay, Michaela: Zwischen Aufklärung und barocker Prachtentfaltung. Anna Bon di Venezia und ihre Familie von „Operisten“. – Oldenburg: BIS-Verlag der Carl von Ossietzky Universität, 2015. 155 S.: s/w-Abb. (Schriftenreihe des Sophie Drinker-Instituts ; 10)
ISBN 978-3-8142-2320-9 : € 19,80 (Pb.)
Anna Bon di Venezia (1738 – nach 1767) ist keine Unbekannte. Ihre Kammermusikstücke wurden bereits in den 1980er Jahren zur Zeit der zweiten feministischen Bewegung veröffentlicht. Auch ihr musikalischer Werdegang wird seither erforscht und immer wieder ergänzt. Meistens entsteht ein Kapitel Musikgeschichte durch die Synthese mehrerer Werdegänge. Im Falle der Schülerinnen der Venezianischen ospedali gehen die Spuren der ehemaligen Schülerinnen von den Institutionen aus. Die ospedali mit ihren reichhaltigen Archivbeständen erlauben es, die Ausbildung einzelner Mädchen Jahr um Jahr nachzuverfolgen, was etwa für die Geigenvirtuosinnen Maddelena Lombardini-Sirmen (1745-1818) und Regina Strinasacchi-Schlick (1761-1839) bereits erfolgt ist.
Der Lebensweg Anna Bons nach dem Verlassen des Ospedale della Pietà und dem Eintritt ins Berufsleben ist nur bruchstückhaft dokumentiert. Diese Fragmente zu einem plausiblen Ganzen zusammenfassen zu wollen ist aufgrund eben dieser (noch) lückenhaften Quellenlage verfrüht. Michaela Krucsay wählte einen anderen Ansatz, indem sie den Werdegang Anna Bons mit demjenigen ihrer Eltern und deren italienischer Operntruppe verknüpft und somit das Einzelschicksal mit der Realität einer repräsentativen Berufsgruppe verbindet.
Über die Kindheit Bons geben die Archivalien des Ospedale della Pietà in Venedig, wo sie eine sorgfältige musikalische Ausbildung genoss, Auskunft. Als etwa Sechzehnjährige schloss sie sich der Operntruppe ihrer Eltern an. Die Mutter, Rosa Ruvinetti, war eine erfolgreiche Sängerin, der Vater, Girolamo Bon, ein angesehener Bühnenbauer, Maler und Librettist. Die Truppe reiste von Hof zu Hof durch Europa, vor Annas Geburt sogar bis nach Russland. In den jeweiligen höfischen und städtischen Archiven lassen sich die Stationen dieser „Operisti“ etwa bis 1765 verfolgen. Danach verlieren sich ihre Spuren. Anna Bon hat wie ihre Mutter als Sängerin gewirkt, überwiegend aber als Cembalistin. Von ihren Kompositionen, mehrheitlich Kammermusik, sind nur wenige greifbar.
Michaela Krucsay hat im Rahmen ihrer Dissertation in Musikwissenschaft die biografischen Elemente zusammengetragen und ergänzt, namentlich indem sie die bisher in der Forschung erwähnten Quellen nochmals kontrolliert, wenn nötig berichtigt und zudem mit neuem Quellenmaterial belegt. Krucsay ist trotz ein paar formaler Mängel ein reifes Buch gelungen, weil sie mit bemerkenswertem Realitätssinn und Pragmatismus mit den Lücken und dem Provisorischen umzugehen weiss. Das Buch trägt zum Bewusstsein bei, dass die Aufarbeitung von «Alltagsmusik», jenseits von Geniekult und Kanon, einen wertvollen Beitrag zum besseren Verständnis und zur Verdichtung der Musikgeschichte leistet.
Irène Minder-Jeanneret
La Chaux-du-Milieu (CH), 11.07.2016