Hartinger, Anselm: „Alte Neuigkeiten“. Bach-Aufführungen und Leipziger Musikleben im Zeitalter Mendelssohns, Schumanns und Hauptmanns 1829 bis 1852 – Wiesbaden: Breitkopf & Härtel, 2014. – 757 S., Abb., Notenbsp. (Beiträge zur Geschichte der Bach-Rezeption ; 5)
ISBN 978-3-7651-0444-2 : € 58,00 (geb.)
Anselm Hartingers Studie hat eine Hauptthese: die berühmten, sogenannten Erst- oder Wiederaufführungen Bachscher Werke in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren, soweit sie nachvollziehbar in Leipzig stattfanden, allesamt Bearbeitungen mit starken, geschmacksbedingten Eingriffen in die Substanz der Werke. Hartinger hat es sich mit ihrer Begründung fürwahr nicht einfach gemacht. Im Gegenteil. Um sie belegen zu können, baut er sogar vor sich und seinen Untersuchungsgang methodisch abgesicherte Hürden auf, die er begründet und nachvollziehbar für den Leser zu überwinden gedenkt. Er kommt dabei, trotz oder gerade wegen seiner gegen sich selbst entwickelten Einwände und Infragestellungen zu erstaunlichen Resultaten, die zukunftsweisend sind und weitere Forschungen eröffnen, v.a. für entsprechende Verhältnisse außerhalb Leipzigs. Für die Leipziger Verhältnisse sind wir durch seine Arbeit in eine sehr viel höhere Stufe des möglichen Halbwissens gelangt. Immer noch sind wir nicht da angelangt, wo Hartinger selbst gerne wäre: in einem Zustand, wo man z.B. ziemlich genau wissen könnte, wie das Gewandhausorchester geklungen oder wie die Leipziger Chöre geprobt haben. Dieser Wunsch ist wohl von einem historisch rekonstruierenden Verfahren für Zeiten mit nur schriftlicher, wenig visueller und gar keiner auditiven Überlieferung, auf das wir qualitativ zurückgeworfen sind, kaum erfüllbar.
Folgende von Hartinger angewandte Methoden sollten Schule machen und können hier exemplarisch nachvollzogen werden: Mehrgleisigkeit der Annäherung an vergangene Wirklichkeiten, ein Denken, das vom einzelnen Werk und zugleich von dessen Schicksal innerhalb späterer, dem Werk übergestülpter Aufführungspraktiken ausgeht, eine Technik des immer erneuten Einkreisens einer vorgegebenen Fragestellung von verschiedenen Aspekten aus und schließlich eine Darstellungsweise aus den Quellen heraus, wobei diese umfänglich und zunächst neutral zur Ausbreitung gelangen.
Es ging den drei für die Bach-Aufführungen jener Zeit in Leipzig maßgeblichen Musikern (dem Thomaskantor Moritz Hauptmann, dann aber besonders Felix Mendelssohn und Robert Schumann) nicht so sehr um die Entdeckung und Zurückgewinnung von etwas Altem, Fremdem, das sie in seiner alten authentischen Gestalt hätten verstehen und zum Erklingen bringen wollen, sondern eher um Neuigkeiten, um ältere Musik in neuem Gewand, damit man entweder deren angeblich zeitlose Mustergültigkeit oder deren Ohrenfälligkeit für die romantisch und biedermeierlich gesinnten Zeitgenossen demonstrieren konnte. Anders als vielleicht bei Johann Nepomuk Schelble in Frankfurt und Johann Theodor Mosewius in Breslau oder am ehesten noch anders als bei Eduard Grell in Berlin, der alle Bearbeitungen von Bach und Händel für Aufführungen in der Singakademie ausschloss, ging es den Leipzigern darum, an Bachs Musik zu demonstrieren, dass und wie man sie zur Vorlage für die Realisierung eines sinfonisch-chorischen Konzepts mit romantischem und massenhaftem Zuschnitt machen könne. Bach wurde also im ersten Prozess seiner Wiederaufführung zunächst auf das Niveau der damaligen Jetztzeit gehoben und den aktuellen aufführungspraktischen Bedürfnissen und Zielsetzungen anverwandelt, so dass man von einer „Erfindung Bachs“ sprechen muss ‑ eine Tendenz übrigens, die man bisher auch schon an der berühmten Berliner Wiederaufführung der Matthäuspassion durch Carl Friedrich Zelter und Mendelssohn im Jahr 1829 hätte feststellen können, wäre man nicht selbst von dem Mythos dieses nationalen Erweckungserlebnisses verblendet gewesen.
Wir wissen nach der Lektüre sehr viel mehr über die inneren Verhältnisse der Thomasschule, des Thomanerchores und über dessen Aufführungen nicht nur Bachscher Werke in den Leipziger Hauptkirchen hundert Jahre nach Bach. Dort konnte man noch am ehesten eine ungebrochene Aufführungstradition wenigstens Bachscher Motetten und damit einen gewissen beharrenden Schutz vor den Symptomen des neu-alten Darbietungskonzepts erwarten. Und wir wissen nun einiges über die Praxis der Konzertprogramme (die Rolle des Vokalen inmitten des Sinfonischen), der Besetzungspraktiken und der Kultur der Leipziger Singvereine. Diese Verhältnisse fanden Mendelssohn und Schumann teilweise schon vor, aber sie modifizierten sie auch und zwar erzieherisch nach ihren klassisch-romantischen Idealen, wobei zu beachten wäre, dass speziell Mendelssohn bereits von seinen Düsseldorfer und englischen Erfahrungen in einer gänzlich anderen Tradition, nämlich durch seine Erfahrungen mit eigenen und fremden Händel-Bearbeitungen geprägt war. Am geringsten erscheinen die Erträge von Hartingers Darstellung bezogen auf das Ehepaar Schumann, Quellen bleiben auch hier die bekannten Aufzeichnungen in den Tagebüchern der Schumanns. Wir kennen ihre weitgehend privaten und oft zu Übungszwecken veranstalteten Bach-Eskapaden, periodisch wiederkehrende rauschhafte Zustände, die sich auf das Klavier- und das Violinwerk konzentrierten. Auch die Umsetzung von Bachschen Orgelwerken für das von Schumann favorisierte Pedalklavier spielt hier ebenso eine gewisse Rolle wie die lebenslange Praxis von Clara Wieck‑Schumann, während ihrer Recitals bestimmte favorisierte Klavierstücke Bachs aus dem Repertoire der Präludien und Fugen mit Werken aus der klassisch-romantischen Kunstperiode zu verknüpfen – eine Praxis, die auch ihre Schwester Marie Wieck als Pianistin bis ins hohe Alter beibehielt.
Unmöglich, hier auf mehrere Einzelheiten des tiefgestaffelten Untersuchungsprogramms Hartingers einzugehen; es lohnt stets, sich darin zu vertiefen, wozu hier ausdrücklich aufgefordert sei, beispielsweise um die vorgeführten Bearbeitungsmethoden, die Mendelssohn der h-Moll-Messe angedeihen ließ, genau zu verfolgen. Wie schwer es manchmal sein kann, auch nur annähernd eindeutig festzulegen, um welches, durch neue Aufführungspraktiken verunstaltete Werk Bachs es sich bei den damaligen Programmen überhaupt gehandelt haben mochte, wird gleich durch Hartingers Einstieg klar. Die Formulierung von den „alten Neuigkeiten“, die dem Buch den Titel gab, stammt aus einem „Leipziger Brief“ vom April 1853 (sinnigerweise einem Zeitpunkt jenseits des von Hartinger untersuchten Zeitraums) aus der Rheinischen Musikzeitung. Es ist dort von einer „Suite für 3 Violinen, 3 Violen, 3 Celli und Contrabass“ die Rede (dargeboten auf dem 17. Abonnementskonzert des Gewandhauses; das Programmheft weist die Satzfolge „Allegro ‑ Menuett ‑ Allegro“ aus) und von einem „Concert für Clavier, Violine und Flöte mit Quartettbegleitung“ (dargeboten auf dem von Hartinger nicht näher spezifizierten 20. Abonnementskonzert des Gewandhauses), beide Male unter der Leitung von Julius Rietz. Und es ist bezogen auf diese Programmpunkte von der „hervorragenden Schönheit“ des langsamen Satzes in beiden Stücken die Rede. Kurzerhand identifiziert Hartinger diese Stücke mit den (von Spitta 1850 aufgefundenen und seit 1873 unsinnigerweise Brandenburgische Konzerte genannten) Konzerten Nr. 3 und 5 aus der Serie der Köthener Concerts avec plusieurs instruments. Weder die getilgten originalen zwei auszuzierenden Überleitungsakkorde zwischen dem 1. und 2. Satz im dritten (zweisätzigen) dieser Konzerte, noch das an deren Stelle eingefügte Menuett würden den als hervorragend schön bezeichneten „langsamen Satz“ ergeben. Hinzu kommt, sollte es sich wirklich um das G-Dur-Konzert für Streichergruppen aus dieser Serie handeln, dass von dieser Leipziger Erstaufführung her quasi ein Urmissverständnis seinen Ausgang nahm, so dass bis heute nicht einmal erwogen wird, ob es sich hier nicht eher um ein noch nie gehörtes Ensemble-Konzert mit cori-spezzati-Technik handeln könnte, für drei Streichergruppen aus je einer Violine, einer Viola und einem Violoncello und einer Continuogruppe. Was das zweite der Konzerte betrifft, so ist ebenso gut denkbar, dass es sich um das sogenannte Tripelkonzert (BWV 1044) gehandelt hat.
Hartinger ist einer der seltenen musikwissenschaftlichen Autoren, die akribische Analysen mit emphatisch und eloquent vorgetragenen Schlussfolgerungen zu verbinden wissen, er nimmt seine Leser sozusagen mit auf eine beschwerlich lange Erkenntnis-Reise und versorgt sie fast unmerklich mit einer Fülle interessant aber unaufdringlich aufbereiteter Details, die die Strapazen fast unterhaltsam erscheinen lassen.
Das Buch enthält zwar schon viele interne Statistiken und Tabellen innerhalb der Kapitel und auch ein kurzes chronologisches sowie ein (ebenfalls chronologisches) kommentiertes systematisches Verzeichnis sämtlicher Bach-Aufführungen in Leipziger Kirchen, Konzertsälen und Privatwohnungen des Zeitraums zwischen 1829 und 1852 auf der angehängten CD-ROM (auf der auch über die Notengrundlagen und die Presseberichterstattung informiert wird). Aber es hätte der Drucklegung dieser Doktorarbeit für eine breitere Öffentlichkeit gut getan, wenn man ihr eine Übersicht der wichtigsten identifizierbaren Werke Bachs und ihrer Wiederaufführungs-Daten in und außerhalb Leipzigs sowie ein bei der Fülle der Bezüge höchst nutzbringendes Personenregister beigegeben hätte.
Peter Sühring
Berlin, 14.08.2015