Kaufmann, Ernst: Wiener Herz am Sternenbanner. Bruno Granichstaedten. Stationen eines Lebens. – Lich: Edition AV, 2014. – 318 S.: Abb.
ISBN 978-3-86841-096-9: € 18,90 (geb.)
Im 17. Jahrhundert schrieb John Donne in der Meditation XVII seiner Devotions upon Emergent Occasions den berühmt gewordenen Satz No man is an island nieder. Er war nicht der Erste, der diese Erkenntnis in Worte fasste. Dass kein Leben für sich allein steht, isoliert und autonom, weiß man wohl seit Anbeginn der Menschheit – und doch erscheint es einem manches Mal wie eine Offenbarung, wenn sich zunächst unvermutet die Verflechtungen von Biographien vor einem auftun, sodass manche Begegnung wie eine Fügung des Schicksals zu wirken vermag. Selbst Kinder der Postmoderne sind vor diesen Momenten nicht gänzlich gefeit, in denen das Gewebe des Universums in unsere Welt durchzuschimmern scheint, die dem teleologischen Denken längst abgeschworen hat. Ernst Kaufmanns biographischer Roman Wiener Herz am Sternenbanner darf in mancherlei Hinsicht als ein weiteres Beispiel für dieses Prinzip des Menschen als soziales Wesen gelten, das stets geprägt ist von seiner Familie, seinen Weggefährten und seiner Umwelt; sei es zum Guten oder zum Schlechten. Teil davon ist der Autor selbst, dessen Tante, Rosalie Kaufmann, die zweite Frau des Komponisten Bruno Granichstaedten war. Diese familiären Verflechtungen waren wohl prägend und nach eigener Aussage des Regisseurs Ernst Kaufmann mitbestimmend dafür, dass dieser sich beruflich zu Theater, Film und Musik hingezogen fühlte. (Vgl. S. 273)
Bruno Granichstaedten wurde im Jahr 1879 als Sohn jüdischer Eltern geboren, die der Kunst nahe standen: Seine Mutter war Schauspielerin, der Vater ein Jurist, der jedoch seiner Berufung zum Kritiker und Dramatiker folgte. Bereits in seiner Kindheit erhielt Bruno, dessen musikalisches Talent schon früh entdeckt wurde, Klavierunterricht bei Anton Bruckner. 1895 leitete der ansonsten pädagogisch wenig ambitionierte Hugo Wolf den jungen Granichstaedten gelegentlich im Bereich der Komposition an. Sein Studium am „Königlichen Konservatorium der Musik zu Leipzig“, der heutigen Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig, wo er Schüler Salomon Jadassohns und Carl Reineckes wurde, konnte durch ein Stipendium finanziert werden. Den zunächst als zweiter Kapellmeister des Stadt-Theaters Erfurt sowie als Korrepetitor am Mannheimer Hoftheater und der Münchner Hofoper eingeschlagenen Weg verließ er jedoch recht bald, wobei sich eine Begegnung mit Frank Wedekind als ausschlaggebend erwies: Eine Zusammenarbeit tat sich auf, die Granichstaedten weg von den großen repräsentativen Bühnen auf die zunächst bescheidener anmutenden Bretter des Kabaretts und schließlich der Operette führte, in deren Silberner Ära er eine bedeutende Rolle spielen sollte. Bereits sein erster Versuch in dieser Richtung, Bub oder Mädel“ (UA 1908 im Johann Strauß-Theater Wien) fand die Gunst des Publikums und schaffte es vier Jahre später unter dem Titel The Rose Maid auch an das New Yorker Globe Theatre. Als der mit Abstand größte Erfolg Granichstaedtens als Operettenkomponist ist jedoch zweifellos Der Orlow (UA 1925 im Theater an der Wien) zu betrachten. Aus dieser Operette, die erstmals eine Jazzband in das urwienerisch nostalgische Genre integriert, stammt auch der Titel Da nehm‘ ich meine kleine Zigarette – immer noch eine der bekanntesten Nummern des starken Rauchers Granichstaedten mit einem damals thematisch durchaus unkonventionell gewählten Text.
Als Bruno Granichstaedten 1935 Rosalie Kaufmann kennenlernte, ließ er sich von seiner ersten Frau, der Sängerin Selma Mertens, mit der er zwei Kinder hatte, scheiden. Das bald darauf einsetzende Grauen des Nationalsozialismus ging auch an Granichstaedtens Familie nicht vorüber, ohne Opfer zu fordern: Seine Tochter Johanna erkannte die Gefahr früh genug, um noch 1938 rechtzeitig in die USA zu emigrieren und sich in Florida niederzulassen. Seinem Sohn Felix hingegen wurde die Ausreise verweigert. Er wurde im Alter von nur 24 Jahren 1943 in Auschwitz ermordet. Bruno Granichstaedten selbst konnte oder wollte die Zeichen der Zeit lange nicht erkennen. Obwohl er gute Kontakte in die USA hatte, die auf einen Filmvertrag mit der Sam Goldwyn Production im Jahr 1930 zurückgingen, schob er das Verlassen Österreichs so lange vor sich her, bis es beinahe schon zu spät war und sowohl er als auch seine perfide der „Rassenschande“ beschuldigte Lebensgefährtin Rosalie inhaftiert wurden, dank der Fürsprache von Kollegen aber wieder freikamen. Diesem Weckruf folgend floh das Paar zunächst nach Luxemburg, um von dort aus über Paris nach New York zu reisen.
Mit seiner Musik tatsächlich in Amerika Fuß zu fassen gelang Granichstaedten, der sich nun Grant nannte, jedoch nie wirklich. Der gesundheitlich bereits schwer angeschlagene Künstler, der auch Libretti und Drehbücher (z.B. Die Försterchristl, gemeinsam mit Alfred Frank 1931. Regie: Friedrich Zelnik) verfasste, verstarb im Mai 1944 an den Folgen eines Herzinfarktes. Vielen dürfte Granichstaedtens Musik bekannt sein, ohne dabei jedoch je bewusst seinen Namen gehört zu haben: Von ihm stammt auch die Einlage Zuschau’n kann i net in der Operette Im weißen Rößl von Ralph Benatzky.
Ernst Kaufmann ist bemüht, den Charme Wiener Künstlertums um die Jahrhundertwende und in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts auch sprachlich zu evozieren. Nicht zuletzt dadurch, aber auch wegen der seinem Künstlerroman inhärenten Dramaturgie gewinnt der Lebensweg Granichstaedtens mit all seinen Zufällen, den Glanzmomenten und Unglücksfällen beinahe schon selbst eine operettenhafte Qualität. Dem Autor, bei dessen Geburt Bruno Granichstaedten bereits seit einem Jahrzehnt nicht mehr unter den Lebenden weilte, war es nicht vergönnt, jenen Komponisten persönlich kennenzulernen, für den er merkbar und zu Recht größte Bewunderung verspürt. So erscheint es nur verständlich, dass er die Silberne Operettenära und deren allmählichen Ausklang phantasievoll in seinem Geist wiedererstehen lässt und gleichzeitig vor dem inneren Auge zahlreicher LeserInnen, die ihm für die Reise in die Vergangenheit und die Begegnung mit so mancher Legende der österreichischen Kulturszene jener Zeit danken werden. Obwohl eine wissenschaftliche Biographie Bruno Granichstaedtens auch nach Erscheinen des vorliegenden Romans noch weiterhin ein Desiderat bleibt, dessen Aufarbeitung einiges verspricht, ist Kaufmanns Ansatz doch begrüßenswert, und die Verve, mit der er sich auf so persönliche Weise dem Thema annähert, lässt über kleinere Ungenauigkeiten hinwegsehen, die gelegentlich in die Schilderungen rutschen. Über so manches hinweg tröstet auch der recht umfangreiche Anhang, der nicht nur eine Chronik und ein Werkverzeichnis umfasst, sondern auch biographische Abrisse zu „Familie, Wegbegleiter[n], Zeitgenossen“ (S. 299‒306). Überdies finden sich auch Informationen zu den Theatern der jeweiligen Uraufführungen und eine Zeittafel der wichtigsten Operettenkomponisten zwischen 1860 und 1938. Einige Abbildungen, natürlich in schwarz/weiß, sorgen dafür, dass der Roman sich noch ein weiteres Stück einem Marischka-Film annähert. Graphisch charmant gelöst ist die Trennung der einzelnen Kapitel voneinander durch das Setzen einer Achtelpause. Den Titel Wiener Herz am Sternenbanner entlehnte Kaufmann einer Autogrammkarte der New Yorker Jahre, von der ebenfalls eine Abbildung ihren Weg ins Buch gefunden hat (S. 204).
Michaela Krucsay
Leoben, 13.04.2015