Skai, Hollow: Rio Reiser – das alles und noch viel mehr – Die inoffizielle Biografie des Königs von Deutschland. – München: Heyne, 2006. – 287 S.: 39 s/w-Abb.
ISBN 3-453-12038-8 : € 18,95 (Hc)
Ulbrich, Lutz: LÜÜL – Ein Musikerleben zwischen Agitation Free, Ashra, Nico, der Neuen Deutschen Welle und den 17 Hippies– Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf, 2006. – 416 S., ca. 100 s/w- u. Farbabb.
ISBN 3-89602-696-8 : € 19,90 (Hc)
Die hier zu Papier gebrachten Schilderungen des Lebens zweier deutscher Musiker aus dem Bereich der sogenannten U-Musik zeigen Parallelen. Der Begriff der „U-Musik“ muß diesbezüglich allerdings erweitert werden: Beide Künstler entstammten dem musikalischen Underground und feierten erst spät, in den 1980er Jahren, bescheidene Erfolge im Unterhaltungsmusik-Bereich. Rio Reiser wurde mit dem dadaistisch-monarchistischem Lied vom „König von Deutschland“ bekannt und Lüül platzierte mit „Morgens in der U-Bahn“ ein ebenso flottes Stück in den Medien. Der im Hitparaden-Mainstream erworbene Ruhm war jedoch nur kurzlebig, Rio Reiser als Person leider auch, er starb 1996. Lutz Ulbrich, unter dem Pseudonym „Lüül“ bekannt, lebt (trotz zeitweiliger Heroin-Abhängigkeit …) und ist weiter als Musiker tätig.
Der als Ralph Christian Möbius geborene Rio Reiser schaffte mit seiner selbstvollzogenen Königskrönung den Sprung in die Hit-Listen. Vorher war er bereits in den Listen des Berliner Verfassungsschutzes vertreten. Das BKA übermittelte anläßlich der Beerdigung des Sängers sogar eine Beileidsbekundung, wie es der Autor der Biographie, Hollow Skai, berichtet. Schließlich lieferte Reiser mit seiner legendären Band „Ton Steine Scherben“ die Begleitmusik für Stadtguerilla, Revolutionäre, Haus-Instandbesetzer und linksalternative Utopisten. Hymnen wie „Keine Macht für Niemand“ repräsentieren das bundesrepublikanische Klima der 1970er und 80er Jahre authentischer und eindringlicher als es die mittlerweile obligatorischen, von den politischen Eliten abgesegneten Fernsehspiele zu RAF und Stammheim annähernd könnten. Die im Selbstvertrieb verkauften Platten der Band fanden sich bevorzugt auf jenen Plattenspielern, die sich in den zu Lautsprecherwagen umgebauten VW-Bussen befanden, ohne die keine Demo startete.
Hollow Skai blendet den gesellschaftlichen Kontext, in dem (und durch den) Rio Reisers Wirken Konturen annimmt, leider fast vollständig aus. Möglicherweise, um Überschneidungen mit bereits erschienenen Darstellungen zur Band-Geschichte und zum späteren Solisten Reiser zu vermeiden. Nicht nur ehemalige Musiker der Gruppe, wie Schlagzeuger Wolfgang Seidel oder Bassist Kai Sichtermann haben bereits Bücher zum Thema vorgelegt, auch Rio Reiser selbst meldete sich schon 1994 autobiographisch zu Wort. Hollow Skai geht es in seiner Publikation um „Widersprüche in Rios Leben und Werk“ (S. 14). Der Leser findet ein an Informationen reiches, aber sprachlich armes Buch, das sich wie der Aufsatz eines fleißigen und es ehrlich meinenden, aber uninspirierten Schülers liest. Neben vielen interessanten Punkten sammeln sich etliche ermüdende Business-Interna und überflüssige Nebensächlichkeiten, wie die Sätze über Reisers Mutter, die mit ihrem Vater in ihrer Jugend sonntags immer ins Museum ging. Auch an peinlichen Sentimentalitäten wird nicht gespart: in Kapitel 25 berichtet Hollow Skai ohne erkennbaren Zusammenhang von einem Mike Wolf, der 1986 im DDR-Knast in Bautzen gesessen haben soll, in einer Zelle „exakt mal zwei Meter groß“ (S. 137). Als im Radio ein Lied von Ton Steine Scherben erklang, „fingen Gefangene an zu randalieren …“ (S. 139). Rio Reiser hat dies nach Darstellung des Autors „wahrscheinlich nie erfahren“.
Im letzten Drittel des Buches häufen sich Banalitäten, Kitsch und Mystifizierung. Hollow Skai berichtet orakelnd, daß am Abend vor Rios Tod dessen Freund Jan „nach dem Grasmähen die Sense mit dem Blatt nach oben am Haus abgestellt hatte“, was „zunächst keinem aufgefallen“ war (S. 197). Der Leser ahnt Böses! Schließlich legt auch noch ein Mitmusiker eine Platte auf, „die er nur alle zehn Jahre mal hört“: Mozarts Requiem! (S. 198) Das kann ja nicht gut gehen. Am nächsten Tag ist Rio Reiser tot. Wenig später erstarb auch das Interesse des Rezensenten am vorliegenden Buch, und das Weiterlesen gestaltete sich anstrengend.
Im Falle von Lutz Ulbrichs Autobiographie bietet sich ein anderes Bild. Auch „Lüül“ entstammte dem Westberliner Underground, der jedoch in seinem Falle eher musikalischer und weniger politischer Natur war. Die Agitation hielt sich trotz des gewählten Namens seiner Band „Agitation Free“ in Grenzen, stattdessen bot man auf Grundlage von intelligenter Rockmusik ausgeklügelte Klangexperimente mit Ethno-Einflüssen und eingestreuten Tonbandaufnahmen.
Ulbrich präsentierte sich bereits in den frühen 1970ern auf LP-Coverfotos als hellblonder, optimistisch blickender Jüngling. Der grundlegende Optimismus scheint ihn nie ganz verlassen zu haben, denn die Reise, auf die der Leser mitgenommen wird, führt durch abenteuerlichste Begebenheiten, die ein Pessimist kaum überstanden hätte. Die Kapitel sind knapp gehalten und oft nur ein paar Sätze lang, man liest fast atemlos und kommt aus dem Staunen nicht heraus. „Kommune I“ (S. 30), „Im Bett von Jim Morrison mit Nico auf Trip“ (S. 92), „Entzug mit Bob Marley“ (S. 135), „Champagner über Berlin“ (S. 79), „17 Hippies in Texas“ (S. 337), „Lutz Ulbrich in Wachs“ (S. 386).
Die flotte, umgangssprachliche und humorvolle, oft knapp gehaltene, aber nie inhaltsleere Schreibweise bietet Tempo und Dynamik. So gelingt es Ulbrich die auch weniger bedeutsamen Belange, die im Gesamtkontext nicht fehlen dürfen, pointenreich zu präsentieren. Die im Mittelteil des Buches abgebildeten, auf Glanzpapier gedruckten Fotos illustrieren die Stationen im Leben des Autors und sind eine schöne Bereicherung der Lektüre. Diese kann als gelungene, empfehlenswerte Dokumentation eines erlebten, lebendigen Stückes Musik- und Zeitgeschichte gelten.
Manfred Miersch
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 27 (2006), S. 403-405