Werr, Sebastian: Heroische Weltsicht – Hitler und die Musik – Köln [u.a.]: Böhlau, 2014 – 300 S.: s/w-Abb., Zitat-Nachweise, Literatur- u. Foto-Verz., Personenreg.
ISBN 978-3-412-22247-5 : € 29,90
So sehr die Person Hitlers inzwischen psychologisch auch erhellt sein mag, volle Einsicht in diesen furchtbaren Charakter wird wohl nie gelingen. In seinem zitatenreichen Buch Heroische Weltsicht – Hitler und die Musik trägt der Musikwissenschaftler Sebastian Werr, Opernspezialist und Mitherausgeber der Schriftenreihe Forum Musiktheater, eine schier erdrückende Fülle an Deutungszitaten zusammen. Sein Titel verrät bereits zur Genüge, auf welchen Aspekt sich der Autor konzentriert, nämlich auf die theatralische Zur-Schau-Stellung der Nationalsozialisten, namentlich ihres „Führers“, vor einem hysterisierten Volk. Das auf Seite 237 abgebildete Foto vom Reichsparteitag 1938 macht einem unschwer die Suggestionskraft bewusst, welche eine derart minutiös kalkulierte Massenveranstaltung auszulösen imstande sein musste. Pikant, dass für das dekorative Umfeld oft der Theaterszeniker Benno von Arent verantwortlich war. In diesem Rahmen erhielten die Auftritte des gelernten Schauspielers Hitler (der über die Wirkung eines Schmierenkomödianten freilich nicht hinauskam) eine besondere Grandeur.
Freilich war er es nicht allein, der mit heroisch übertriebenem Gestus die Massen zu hypnotisieren verstand. In Italien agierte auch ein Mussolini im Stile „melodramatico“, um einen Begriff des kommunistischen Philosophen Antonio Gramsci zu benutzen (S. 234). Obwohl in der Hitler-Bibliografie immer wieder seine (in der Tat unzweifelhafte) Verehrung für Richard Wagner zur Sprache kommt, bestehen doch Zweifel, dass es primär dessen Musik war, welche so hehre Gefühle auslöste. Friedrich Nietzsche war überzeugt, Wagners Wirkung rühre nicht so sehr von seiner Musik, noch weniger von der Dichtung her, vielmehr sei „seine Kunst Ausdrucksveranschaulichung eines Gefühlserlerbnisses.“ (S. 236).
Tatsächlich halten Hitlers Äußerungen über Wagner musikanalytischen Kriterien nicht stand. Den “Erlöser“ Lohengrin (diese Oper war prägendes Jugenderlebnis in seiner Geburtsstadt Linz) und den Imperator Rienzi verbindet kaum die Musik, sondern lediglich das Moment heldenhafter Integrität, für welche Hitler – seit jeher theaterbegeistert – sofort szenische Porträts imaginierte. Als Frontsoldat studierte er im Schützengraben den Tristan-Klavierauszug. Kaum mächtig der Notenschrift, hatte er „bei jedem Takt … (vor allem) eine Vorstellung von der betreffenden Aktion auf der Bühne.“ (S. 12)
Hitlers Begeisterung für Wagner war im übrigen nicht exklusiv. So schätzte er auch die Operetten Franz Lehárs trotz dessen jüdischer Mitarbeiter. Dennoch stand der Meister von Bayreuth im Mittelpunkt seines Interesses. Viel persönlicher Geschmack war freilich dabei, welcher in seiner Entourage keineswegs immer geteilt wurde. Joseph Goebbels etwa fand die Parsifal-Musik hinreißend, das Libretto hingegen „kaum erträglich“ (S. 10). Bei Wagner-Aufführungen schliefen viele Parteigenossen einfach ein. Auch die Hitlerjugend murrte gegen die Wagner-Fixierung des „Führers“, da für sie – so die Feststellung des Philosophen Christian von Ehrenfels 1931 – die Stoffe „nicht germanisch, sondern südländisch inspiriert und verweichlichend (seien)“ (S. 14). Auch lehnte man die „Erotik der nordischen Götter“ kategorisch ab. Aber gegen das Charisma Hitlers vermochten solche Stimmen nichts auszurichten. Mit seinem verbalen Pathos, seiner gloriolen Selbstinszenierung und seiner „heroischen Weltsicht blieb er ungefährdet. Das von Werr insgesamt sehr suggestiv entworfene Zeitbild wirkt nach.
Christoph Zimmermann
Köln, 30.10.2014