Christopher, Nicholas: Tiger Rag. Roman. Aus d. Engl. v. Pociao. – München: dtv, 2014. – 317 S.
ISBN 978-3-423-26029-2 : € 14,90 (Pb.; auch als e-book und PDF erhältl.)
Die Vorgeschichte des Jazz mag schemenhaft in der Vergangenheit ruhen, eng verwoben mit den mörderischen Sklavenrouten aus Afrika und den Trecks europäischer Siedler durch die neue Heimat. Die Geburtsstunde dieser Musik aber liegt klar vor uns: Im Juli 1904 ruft der Kornettist Charles Bolden seine Band in New Orleans zusammen. Spielen wollen sie, natürlich, jedoch nicht vor Publikum, sondern vor einem technischen Wunderwerk, mit dem erstmals Klänge konserviert werden können. In selbstvergessener Ekstase variiert Bolden die Melodie, überwindet die stereotypen Floskeln der vertrauten Ragtime-Arrangements und verliert sich in explosiven Improvisationen. Einem göttlichen Akt gleich erschafft Bolden eine Musik, die wenig später die Welt erobern wird. Nach drei Walzen des Edison-Phonographens sind die Musiker fertig, der Tontechniker beschriftet die Schachteln mit den Worten Tiger Rag und die Jazz-Geschichte kann beginnen.
So zumindest schildert es der amerikanische Autor Nicholas Christopher in seinem 2013 erstmalig erschienenen Roman. Da sind sie also, die drei Walzen. Zwei von ihnen verschwinden im Laufe der Geschichte, die dritte aber ist der rote Faden, mit dem Christopher eine Reise durch Zeit und Raum beginnt. Der Leser sieht dreckige Spelunken und plüschige Bordells, vornehme Nachtclubs und moderne Tonstudios. Die Walze wechselt die Besitzer, ist für Jahre verschollen und dann wieder Anlass für Verbrechen. Berühmte Zeitgenossen säumen den Weg: Bunk Johnson, Sidney Bechet, Louis Armstrong. Die Suche nach dieser Geburtsurkunde des Jazz ist zugleich Roadmovie durch dessen Geschichte als auch Liebeserklärung an dieses Genre. Unterbrochen wird dieser Handlungsstrang durch einen Parallelplot, in dem sich eine Ärztin und ihre Tochter aus der Jetztzeit ausgehend von persönlichen Krisensituationen aufeinander zu bewegen und ihre Familiengeschichte erforschen. Allmählich verzahnen sich die Geschicke der vielfältigen Charaktere, bis sie schlussendlich im gemeinsamen Finale aufgehen.
Auch wenn die sich entblätternde Mutter-Tochter-Beziehung komplexer und damit psychologisch ansprechender gestaltet wurde, ist die musikgeschichtliche Jahrhundertschau für Jazzfans von großem Interesse. Wie in historischen Romanen üblich, verknüpft Christopher fiktive und reale Elemente. Den Tiger Rag kennt man als einen der ersten Jazztitel, die jemals auf Schallplatte gepresst wurden (allerdings über zehn Jahre nach der Eingangsszene). Buddy Bolden hat ebenso gelebt wie Bunk Johnson, der in der Walzentragödie eine ziemlich unrühmliche Figur abgibt. Ihre biografischen Charakterisierungen entsprechen den bekannten Quellen und sind eingebettet in faktengenaue Schilderungen örtlicher und gesellschaftlicher Begebenheiten. Offensichtlich ist, dass Christophers dokumentarisch-fiktiver Einblick in die Jazzgeschichte eine Herzensangelegenheit ist. Schwelgen wir mit ihm in der Vergangenheit, solange Boldens Tiger-Rag-Walze noch der Entdeckung harrt.
Michael Stapper
München, 08.09.2014