Richard Wagner. Briefe des Jahres 1869 / Hrsg. von Andreas Mielke. – Wiesbaden: Breitkopf & Härtel, 2013. – 843 S.: 1 Abb. (Richard Wagner. Sämtliche Briefe ; 21)
ISBN 978-3-7651-0421-3 : € 54,– (geb.)
In der Edition von Wagners sämtlichen Briefen war nach dem Jahresband für 1868 zunächst eine Lücke entstanden, weil anschließend schon derjenige für 1870 folgte. Der Zeitaufwand für die Vorbereitung solcher Ausgaben kann eben nie exakt vorhergesehen werden, und die philologische Gründlichkeit muss immer absolute Priorität haben. Der schwergewichtige Band für 1869 dokumentiert 357 Schreiben (darunter 44 Erstveröffentlichungen) – 36 davon sind verloren, können aber anhand anderer Quellen erschlossen werden. Indessen macht dies nicht einmal die Hälfte des Gesamtumfanges aus, weil die Kommentare wieder erfreulich detailliert ausgefallen und verschiedene Register beigefügt sind. Einmal mehr bewährt sich die ab Band 10 geltende editorische Neukonzeption, die zugleich die Versäumnisse der älteren Bände deutlich macht. Das Berichtsjahr ist zunächst quellengeschichtlich denkwürdig, weil Cosima, die mit der Wagner noch in „wilder Ehe“ lebte, ab jetzt Tagebuch führte: Zusammen mit der Korrespondenz existieren von nun an zwei authentische, wenn auch subjektiv stark gefärbte Lebenszeugnisse, die einander ergänzen. Wieder gab es in Wagners Leben einige herausragende Ereignisse, die sich in seiner Korrespondenz widerspiegeln und in der vorliegenden Ausgabe als informative Essays – die „Themenkommentare“ – niederschlagen. Musikgeschichtlich am bedeutendsten war zweifellos am 22. September die Uraufführung von Rheingold in München, die Wagner zwar nicht begrüßte, aber wenigstens aus der Ferne zu steuern suchte. Die Vorbereitungen hatten im März begonnen und entwickelten sich zu einer nicht endenden Abfolge nervtötender Fehlschläge, in deren Verlauf nicht nur Hans Richter, der zunächst vorgesehene Dirigent, das Handtuch warf, sondern auch das Ensemble mehrfach umbesetzt und der für Sommer geplante Termin immer wieder verschoben werden musste. Erfreulicher verlief die gleichzeitige Rezeption der Meistersinger: Im Gegensatz zu den abschreckenden Schwierigkeiten bei Tristan und Isolde wurde das heitere Gegenstück zunächst im deutschen Sprachraum rasch nachgespielt. Außerdem fand in Paris die Erstaufführung des Rienzi statt, die nicht zuletzt wegen der opulenten Ausstattung sehr erfolgreich war. Doch daneben gab es noch einen schwarzen Punkt, dessen negative Auswirkungen man gar nicht hoch genug bewerten kann: Wagner veröffentlichte eine überarbeitete Fassung seines Pamphletes „Das Judentum in der Musik“. Während die Erinnerung an die anonym erschienene Erstausgabe in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ von 1850 ziemlich verblasst war, konnte die selbstständige Broschüre nicht mehr übersehen werden und entwickelte eine fatale Eigendynamik; der Text gilt seitdem als zentrale Schrift des Rassenantisemitismus, worauf sich nicht nur die nächste Generation jener furchtbaren Ideologen beriefen (darunter Georg Schönerer oder Houston Steward Chamberlain, seit 1906 Wagners „posthumer“ Schwiegersohn), sondern auch die Nationalsozialisten. Dokumentieren Cosimas Tagebücher deren vergebliches Abraten, so bekunden Wagners briefliche Rechtfertigungsversuche sein eigenes mit Unsicherheit gepaartes Unbehagen.
Georg Günther
Stuttgart, 08.12.2013